Tango Vitale
|11| Das Kaleidoskop des Schicksals
Zum Start müssen wir erst einmal wissen, was das Schicksal überhaupt ist. Bevor wir ins Detail gehen, brauchen wir Antwort auf die Fragen:
Wie verhält sich das Schicksal?
Welche Macht steht hinter ihm?
Welchen Einfluss haben wir?
Allerdings, diese Antworten lassen sich nicht mal eben aus dem Ärmel schütteln. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Schließlich ist es nicht das erste Mal, dass ich mich freiwillig bereit erkläre, am großen Rad zu drehen und mich mit den grundlegenden Dingen des Lebens zu beschäftigen.
Im Frühjahr 1985 war es schon einmal so weit. Ich saß am Schreibtisch und war verzweifelt – und das, obwohl es um das Glück ging. Zu einer Zeit, in der sich die Psychologie noch intensiv mit der dunklen Seite der Gefühle beschäftigte und Depressionen, Ängste, Süchte und Zwänge erforschte, hatte ich mir für meine Dissertation das ungewöhnliche Thema »Glücklichsein« ausgesucht. Und musste feststellen, dass es nicht einmal eine allgemeingültige Definition für meinen Untersuchungsgegenstand gibt. Ob Platon, Buddha, Augustinus, John Stuart Mill oder Sigmund Freud – sie alle definieren Glück entsprechend ihrer Weltanschauung und Disziplin. Das hat sich übrigens bis heute nicht geändert, auch wenn die Glücksforschung dank der Medizin interessante Erkenntnisse gewonnen hat.
|12| Also näherte ich mich dem Glück auf eine Weise, wie sie Professor Robert Spaemann für sein Fachgebiet vorschlägt: »Die Philosophie umkreist das Thema Glück, ohne eine Wissenschaft vom Glück sein zu wollen. Sie ist eine Bemühung um Glück.« Ich entschied mich dafür, auch im Bereich der Psychologie phänomenologisch vorzugehen und das Glück in seinen vielfältigen Formen zu erkunden und zu beschreiben.
Nun stehe ich Jahre später wieder vor dem gleichen Problem. Diesmal heißt die Herausforderung »Schicksal«. Geht’s noch eine Nummer größer? Wohl kaum. Das Schicksal (von altniederländisch schicksel, das Gemachte) umfasst schließlich alles, was den Lebenslauf der Menschen beeinflusst. Nachdem ich mich durch das Schicksal in antiken Tragödien, in theologischen und philosophischen Abhandlungen sowie unter historischem Aspekt gearbeitet habe, fühle ich mich ähnlich erschlagen wie beim Thema Glück: Jede Menge Material – und doch gibt es keine Garantie dafür, dass damit das Schicksal endgültig erfasst ist. Deshalb habe ich mich für die Form entschieden, die sich schon beim Glück bewährt hat: Das Schicksal anhand von konkreten Erfahrungen und mit dem Wissen zu erkunden, das uns zur Verfügung steht.
Wie verhält sich das Schicksal?
Betrachten wir also zunächst die wichtigsten Erscheinungsformen des Schicksals, in der Hoffnung, dass sich daraus ein Gesamtbild ergibt. Stellen Sie sich das bitte nicht wie ein Puzzle vor, bei dem sich die einzelnen Teile exakt ineinanderfügen. Die Auswirkungen des Schicksals sind so extrem unterschiedlich, dass sie für unsere Logik einfach nicht zusammenpassen. Eher bilden sie eine Gesamtheit auf die Art, wie sich beim Blick durch ein Kaleidoskop die gebrochenen Facetten zu einem Muster zusammensetzen.
|13| Facette 1: Das allgemeine Schicksal reißt das individuelle mit
Das »große«, allgemeine Schicksal einer Epoche, einer Region oder einer Volksgruppe bestimmt das »kleine« Schicksal des Individuums, sodass dieses kaum noch Bewegungsfreiheit hat. Ganz besonders zeigt sich das unter unglücklichen Bedingungen wie Naturkatastrophen, Hungersnöte, Kriege, Diktaturen, Verfolgung von Minderheiten oder Terroranschläge.
Als sich im August 79 n. Chr. der Vesuv nach seinem 18-stündigen Ausbruch wieder beruhigt hat, sind die meisten Menschen in Pompeji erstickt oder von herabstürzendem Gestein erschlagen worden. Die wenigen, die noch leben, fallen kurze Zeit später Glutlawinen zum Opfer.
Asche-Schnee von gestern? Keineswegs. Trotz allem technischen Fortschritt lassen sich Naturkatastrophen auch heute noch weder völlig vorhersehen noch beherrschen. Frühwarnsysteme sind nur bedingt in der Lage, sichere Voraussagen zu machen. Außerdem ist es äußerst schwierig, Menschen in bedrohten Gebieten rechtzeitig zu informieren, um sie zu evakuieren und so ihr Leben zu retten. Dazu nur ein Beispiel aus jüngster Zeit:
Japan wird im Frühjahr 2011 in der Region Fukushima von einem Erdbeben der Stärke 9 erschüttert. Der damit verbundene Tsunami löst im Atomkraftwerk einen GAU aus. Die radioaktive Verstrahlung
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