Tante Dimity und der unerhoerte Skandal
Nells Arm, beugte sich zu mir herüber und fragte: »Du kennst Vetter Gerald doch, oder?«
Langsam schüttelte ich den Kopf. »Ich habe noch nie von ihm gehört. Ich wusste nicht einmal, dass es einen englischen Zweig der Familie Willis gibt. Bill hat niemals …« Ich griff mir erschrocken an den Kopf. »O Emma, was soll ich Bill bloß sagen?«
»Ich glaube, du solltest ihm gar nichts sagen, wenigstens vorläufig«, riet Emma. »Nicht, bis wir ihm etwas Konkretes mitteilen können.« Sie griff nach der Tasse mit dem kalten Tee und stand auf.
»Ich weiß nicht, wie du darüber denkst, aber ich könnte jetzt einen Tee gebrauchen. Ich gehe und stelle den Kessel auf. Nell, du und Bertie könnt Feuer machen.« Emma ging zur Tür und rieb sich die Arme. »Plötzlich ist es gar nicht mehr so warm.«
Ein Feuer wäre eigentlich nicht nötig gewesen – es war fast elf Uhr, und am blauen Himmel war kein Wölkchen – aber ich verstand, dass es Emma kühl vorkam. Für mich war es ebenfalls ein Schock. Meine Hände waren eiskalt, mein Magen schien sich verknotet zu haben und meine Gedanken rasten.
Was war an diesem Morgen passiert? Während der kurzen Zeitspanne – nicht mehr als einer halben Stunde – zwischen meinem Weggang und Nells Ankunft im Haus musste etwas passiert sein, das Willis senior veranlasst hatte, sein Buch hinzulegen, eine nichts sagende Nachricht zu schreiben und so schnell loszufahren, dass der Kies in der Einfahrt bis auf die andere Straßenseite gespritzt war. Was für eine Familienangelegenheit hatte ihn veranlasst, sich so panikartig nach Haslemere aufzumachen? Und was meinte Tante Dimity mit ›große Geldsummen‹? Und, was mich am meisten verwunderte, warum hatte Bill mir nie etwas über Vetter Gerald erzählt?
Auf keine dieser Fragen hatte ich eine Antwort, und ich hatte nicht die Absicht, Bill danach zu fragen. Wenn Vetter Gerald ein tiefes, dunkles Geheimnis war, dann würde Bill wissen wollen, wo ich von ihm gehört hatte, und das könnte zu Erklä
rungen führen, die ihn von seiner Arbeit ablenkten.
Und ich wollte nicht, dass er abgelenkt wurde.
Auch wenn ich die Biddifords auf den Grund ihres verdammten Sees in Maine wünschte, ihr Fall war mir dennoch wichtig. Wenn Bill den Rechtsstreit beilegen konnte – was etwa dem Auffinden des Heiligen Grals gleichkam –, dann könnte er in Zukunft vielleicht aufhören, sich so zu schinden. Er würde vielleicht sogar Zeit für eine Familie haben.
Wie konnte ich das alles aufs Spiel setzen für etwas, das sich womöglich als fruchtloses Unterfangen herausstellte?
Außerdem konnte ich andere Informationsquellen anzapfen. Im Moment fiel mir mindestens eine Person ein, die mir wahrscheinlich alles über Vetter Gerald erzählen konnte, was ich wissen müsste.
»Wo liegt Haslemere?«, fragte ich Emma, als sie mit dem Teetablett wiederkam.
»Willst du etwa wirklich hinfahren?«, fragte sie zweifelnd.
»Das werde ich ganz bestimmt«, erwiderte ich.
»Wie lange brauche ich dazu?«
»Drei bis vier Stunden, das hängt vom Verkehr ab. Haslemere liegt im südöstlichsten Zipfel von Surrey.« Emma war ein Genie im Orientierungslauf, und wenn sie nicht im Garten war, konnte man sie gewöhnlich mit einer topografischen Karte auf einem Berg finden. »Ich bin dort noch nie gewesen, aber Nell kennt es.«
»Papa hat dort einmal den Kirchenvorstand der SanktBartholomäusKirche beraten, als es darum ging, wieder Glocken in dem restaurierten Turm aufzuhängen«, erklärte Nell und reichte mir eine Tasse Tee. »Bertie und ich sind mitgefahren.«
»Was für ein Ort ist es?«, wollte ich wissen.
»Viel größer als Finch«, erwiderte Nell. »Es hat sogar einen Bahnhof.«
»Ist es ein Ort, wo reiche Leute wohnen?«, hakte ich nach. »Gibt es dort Landhäuser und große Anwesen?«
»O ja. Papa zeigte Bertie und mir ein paar ganz tolle Häuser. Das von Tennyson und von Conan Doyle …« Nell hielt inne und sah mich aufmerksam an, dann schüttelte sie den Kopf. »Aber das sagt ja noch nichts über Vetter Gerald. In Haslemere wohnen alle möglichen Leute.«
»Gerald kann genauso gut in einer Sozialwohnung wie auf einem Landgut wohnen«, stimmte Emma zu. »Es ist zu dumm, dass Tante Dimity keine Zeit hatte, seine Adresse aufzuschreiben.«
»Darüber habe ich nachgedacht.« Ich rutschte in meinem Sessel herum, ich war mir bewusst, wie einfältig mein nächster Vorschlag klingen musste. Es hing ganz und gar davon ab, ob die englischen Willis genauso der
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