Tante Dimity und der unheimliche Sturm
einziges Kind; seine einzige Verwandte, um genau zu sein – die letzte Nachfahrin seines Geschlechts. Er hatte gehofft, dass sie eine gute Partie machen würde, und ihre Wahl erfüllte ihn mit Stolz. Mehr noch, sie liebte den Burschen, und er liebte sie.«
»Wie kam Miss DeClerkes Mutter ums Leben?«, fragte Wendy.
»Durch die Grippeepidemie am Ende des Ersten Weltkriegs«, erwiderte Catchpole. »Die Millionen Menschen dahingerafft hat.«
»Grippe.« Wendy schob ihre Suppenschüssel zur Seite und starrte auf ihr Risotto. »Verzeihen Sie, dass ich Sie unterbrochen habe. Sie waren gerade dabei, uns von Miss DeClerkes Hochzeit zu erzählen.«
»Die Hochzeit fand nie statt«, sagte Catchpole. »Alles war für die Trauung vorbereitet, die für Juni angesetzt war – das Hochzeitskleid, die Einladungen waren verschickt, das Haus in London war für den Empfang hergerichtet –, aber sie sollte nie stattfinden. Miss DeClerkes Verlobter wurde zum Expeditionskorps eingezogen und während der Evakuierung von Dünkirchen schwer verwundet. Das war im Mai.«
»Ende Mai«, murmelte Jamie und legte den Löffel neben seinen Teller.
»Ja, Sir«, sagte Catchpole. »Er starb am 29.
Mai 1940. Ich war damals erst sechs Jahre alt, aber ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem Miss DeClerke aus London zurückkehrte.
Von Kopf bis Fuß in Schwarz, sah sie aus, als könnte ein herabfallendes Blatt sie zu Fall bringen. Sobald sie im Wald spazieren ging, schickte meine Mutter mich hinter ihr her, um ein Auge auf sie zu haben und sicherzustellen, dass sie sich nichts antat. Miss DeClerke schien nichts dagegen zu haben.« Catchpole sah mich an. »Sie werden es vielleicht kaum glauben können, Madam, aber als Kind habe ich nicht viel geredet.
Deshalb hatte Miss DeClerke wohl auch nichts dagegen einzuwenden, mich im Schlepptau zu haben.« Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Entschuldigen Sie mich bitte, Madam, ich gehe kurz in den Lampenraum, um die Petroleumlampen zu holen. Nicht mehr lange, und wir werden sie brauchen.«
»Ich komme mit Ihnen«, bot Wendy an. »Ich wollte schon immer einmal einen Lampenraum sehen.«
»Hier entlang, Madam.« Catchpole deutete in den dunklen Gang hinaus, folgte Wendy und ließ Jamie und mich allein in der Küche zurück.
Wir hatten den Hauptgang gegessen. Jetzt wartete noch das überbackene Aprikosenkompott auf uns, das Catchpole als Dessert zubereitet hatte. Während Jamie das Kompott, das in der Backform noch Blasen warf, in Schälchen füllte, spülte ich die Teller und Töpfe und stellte sie zum Abtropfen auf das hölzerne Gestell.
»Hier ist noch etwas«, sagte Jamie und reichte mir die Auflaufform, die er gerade geleert hatte.
Ich schrubbte sie und stellte sie ebenfalls auf das Holzgestell. Dann spähte ich aus dem Fenster über dem Spülbecken. Vom Hof war nichts mehr zu erkennen. Die Nebengebäude sahen aus wie weiße Hügel in einer arktischen Wüste, und auch wenn der Wind ein wenig nachgelassen hatte, purzelten die Schneeflocken nach wie vor aus dem wolkenverhangenen Himmel. Ich fühlte mich vollkommen von der Welt abgeschnitten, ausgesetzt in einer Landschaft, die so abgelegen war wie der Mond.
»Kaum zu glauben, dass es erst halb vier ist«, sagte ich. »Es wird schon dunkel.«
»Das liegt an den Wolken. Sie verschlucken jeden Sonnenstrahl.« Jamie lehnte sich mit dem Rücken an die Spüle und fragte: »Alles in Ordnung mit Ihnen? Sie hören sich ein wenig … melancholisch an.«
Ich seufzte. »Grippeepidemie, eine Hochzeit, die ins Wasser gefallen ist, ein toter Verlobter, der Krieg – was für eine traurige Geschichte.«
»Und ich fürchte, sie wird noch trauriger werden«, sagte Jamie. »Wir haben den Rest ja noch nicht gehört. Möchten Sie, dass ich Catchpole bitte, uns das Ende zu ersparen?«
»Nein, das will ich nicht.« Ich warf einen Blick in Richtung des Flurs und sagte mit gesenkter Stimme: »Er ist noch nicht bei dem Teil angekommen, wo es um die Amerikaner geht.«
Jamie beugte sich, den Ellbogen auf der Spüle aufgestützt, näher zu mir. »Ich frage mich, was es mit den Amerikanern in dieser Geschichte auf sich hat. Miss DeClerke hat sie doch bestimmt nicht für Dünkirchen verantwortlich gemacht, nicht wahr?«
»Man weiß nie«, erwiderte ich. »Sie war jung und hatte ein gebrochenes Herz. Vielleicht brauchte sie jemanden, dem sie die Schuld geben konnte, wen auch immer. Aber wir brauchen nicht weiter zu raten. Catchpole wird es uns gleich
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