Tante Dimity und der unheimliche Sturm
vollends, als er sich seiner geflickten Segeltuchjacke und der zerschlissenen Schals entledigte und darunter Kleider zum Vorschein kamen, die nicht annähernd so ramponiert waren, wie ich es erwartet hätte. Die Strickweste mit Schottenmuster mochte zwar nicht gerade optimal zu dem karierten Flanellhemd passen, doch beide Kleidungsstücke waren sauber und ordentlich, und die Kordhose war ebenfalls makellos.
»Es ist gut, dass Miss Gibbs’ Speisekammer stets gefüllt ist«, sagte Catchpole und nahm einen Kochtopf aus der Anrichte. »Sieht so aus, als könnten Sie etwas zu essen gebrauchen, Madam.«
»Wie meinen Sie das?« Ich fragte mich, ob ich plötzlich auf wundersame Weise unterernährt aussah.
»Ich meine, dass Sie mindestens eine Nacht hier verbringen werden, Madam, aber wahrscheinlich werden es mehr«, sagte Catchpole.
»Der Schnee reicht inzwischen bis zu den Fenstersimsen, und es sieht nicht so aus, als würde es bald aufhören zu schneien. Es wird mindestens zwei Tage dauern, nehme ich an, bis ein Schneepflug sich zur Abtei verirrt.«
Wendy, Jamie und ich standen gleichzeitig auf, um aus einem der gotischen Fenster zu schauen.
Catchpole hatte recht. Die Schneewehen türmten sich bis zum Fenstersims und wuchsen so schnell, dass man dabei zusehen konnte.
Ich stöhnte leise. »Wir können von Glück sagen, wenn wir bis Mai von hier wegkommen.«
»Erst einmal können wir von Glück sagen, dass wir hier sind«, sagte Wendy. »Stellen Sie sich vor, was wäre, wenn wir in …«
»Bitte nicht weiter.« Ich schauderte und schlug die Arme vor die Brust. Meine Fantasie reichte aus, um mir vorzustellen, was alles hätte passieren können.
»Ja, lassen Sie uns lieber daran denken, wie viel Glück wir hatten«, schlug Jamie vor und legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter.
»Wir haben zu essen, sind in Sicherheit und im Warmen und haben Gefährten gefunden. Was wollen wir mehr?«
»Die Unterwäsche wechseln, das wäre beispielsweise nicht schlecht«, murmelte ich. Ich drehte mich um und beschrieb eine Geste in Richtung unserer Rucksäcke. »Sie beide scheinen ja darauf eingerichtet zu sein, im Freien zu übernachten. Ich hingegen bin nur für eine kleine Wanderung ausgerüstet. Eigentlich hatte ich vor, heute Nacht zu Hause zu schlafen, in meinem eigenen Pyjama und in meinem warmen Bett. Ich habe nicht einmal ein zusätzliches Paar Socken dabei.«
Catchpole schien mein leises Klagen vernommen zu haben, denn über die Schulter sagte er:
»Machen Sie sich keine Sorgen wegen frischer Kleidung, Madam. Miss Gibbs hält immer einen gewissen Vorrat an Kleidung für ihre Gäste parat. Und was das Schlafen anbelangt, so sind die Gästezimmer ebenfalls bereit. Wenn Sie gegessen haben, zeige ich sie Ihnen.«
»›Und alles, was ihr im Gebet erbittet, werdet ihr erhalten, wenn ihr glaubt‹«, sagte Jamie leise.
»Amen«, fügte ich murmelnd hinzu.
Während Jamie und Wendy das Geschirr von unserer Vorspeise abspülten, deckte ich den Tisch für den zweiten Gang. Das würzige Aroma der Hummercremesuppe waberte noch durch die Küche, während Catchpole sich dem köchelnden Risotto zuwandte.
»Catchpole«, sagte ich und nahm wieder auf meinem Stuhl Platz, »wenn Miss Gibbs so oft Besuch empfängt, warum hat sie dann kein Telefon im Haus installieren lassen? Und warum gibt es kein heißes Wasser? Und warum …«
»Sie hat bisher noch keinen Besuch empfangen, Madam«, unterbrach Catchpole mich. »Sie ist dabei, Vorbereitungen dafür zu treffen, wenn Sie so wollen. Miss DeClerke hatte die Abtei ziemlich herunterkommen lassen, müssen Sie wissen, und Miss Gibbs hat die letzten zwei Jahre damit verbracht, sie wieder instand zu setzen.
Es war allerhand zu tun, angefangen von den elektrischen Leitungen und den Wasser-und Ab-flussrohren, die erneuert werden mussten, neue Gasleitungen mussten verlegt, das Dach erneuert und eine Küche eingerichtet werden, die Miss Rhadus Anforderungen gerecht wurde, die Gästezimmer mussten renoviert werden. Im April hat Miss Gibbs eine große Feier geplant – die Enthüllungsfeier, wie sie es nennt –, und wir hoffen, dass bis dahin alles fertig sein wird. Aber fürs Erste müssen Sie sich mit Petroleumlampen begnügen, was das Licht anbelangt, und mit einem Herdfeuer, um sich zu wärmen.«
»Wohnen Sie in der Abtei?«, fragte ich.
»Nein, Madam, ich habe ein Cottage weiter hinten, nicht weit entfernt von der Familiengruft.« Catchpole warf einen verstohlenen Blick auf Jamie.
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