Tante Dimity und die unheilvolle Insel
tippte sich mit den Fingerspitzen leicht an die Stirn und verschwand, um seinen Patrouillengang entlang der Sicherheitszone fortzusetzen.
Und ich ging wieder nach oben, um weiterzupacken.
Stanley, der klügste aller Kater, hielt es für ratsam, uns aus dem Weg zu gehen und sich auf Bills Lieblingssessel im Wohnzimmer einzuigeln.
Dort blieb er bis zum Dinner, bei dem er uns im Esszimmer Gesellschaft leistete und sein Möglichstes tat, um uns davon zu überzeugen, dass der Kalbsrollbraten ausschließlich für ihn geschmort worden war.
Nach dem Dinner versammelten wir uns um den Küchentisch und spielten mit den Kindern Quartett. Das regte die Jungs derart an, dass sie auch dann noch eifrig Karten tauschten, als es längst Schlafenszeit war. Als das Spiel endlich vorbei war, ging Annelise in ihr Zimmer, um ihre eigenen Sachen zu packen, während Bill die Zwillinge ins Bett brachte. Stanley begleitete sie – er hatte sich von Anfang an als Bills Katze gefühlt. Ich wollte nicht stören. Schließlich wusste ich, dass ich die Zwillinge bald auf Schritt und Tritt bei mir haben würde, wohingegen Bill keine Ahnung hatte, wann er sie wiedersehen würde.
Allein schon deshalb wollte ich den dreien so viel gemeinsame Zeit wie nur möglich gönnen.
Ich räumte in der Küche die Spielkarten weg, räumte die Geschirrspülmaschine aus und klebte Zettel an die Schränke, um Ivan Anton und seinen Männern die Suche zu erleichtern, falls sie sich selbst etwas kochen wollten. Es ging bereits auf zehn Uhr zu, als ich ins Arbeitszimmer zurückkehrte, wo die Lampen am Kaminsims noch brannten.
Zunächst zündete ich das säuberlich im Kamin aufgeschichtete Brennholz an. Als die Flammen aufloderten, nahm ich ein in blaues Leder gebundenes Buch aus dem Bücherregal und ließ mich damit in dem Sessel nieder, den ich auch schon während des beunruhigenden Gesprächs mit Bill besetzt hatte.
Das blaue Buch war eine Art Tagebuch. Ich hatte es von der engsten Freundin meiner verstorbenen Mutter geerbt, einer Engländerin namens Dimity Westwood. Meine Mutter und Dimity hatten sich in London kennengelernt, als sie im Zweiten Weltkrieg ihren jeweiligen Ländern gedient hatten. Auch wenn sie sich nach der Rückkehr meiner Mutter in die Staaten nie wiedergesehen hatten, hatten sie ihre Freundschaft aufrechterhalten und einander Hunderte von Briefen über den Atlantik geschickt.
Meiner Mutter lag die Korrespondenz mit Dimity sehr am Herzen. Ihre Briefe waren ihre Zuflucht, ihr Ausweg aus der Routine und den Pflichten des Alltags, und sie bewahrte sie als ihr streng gehütetes Geheimnis auf. Auch ich erfuhr erst von den Briefen und ihrer Freundschaft, als sie und Dimity gestorben waren.
Bis dahin hatte ich Dimity Westwood nur als Tante Dimity gekannt, die legendäre Heldin meiner Kindheit, die in allen Gutenachtgeschichten, die meine Mutter für mich erfand, die Hauptrolle spielte. Die Wahrheit über Tante Dimity war ein ziemlicher Schock für mich gewesen. Ebenso die überraschende Nachricht, dass die Heldin meiner Kindheitsgeschichten mir nicht nur ein äußerst echtes Vermögen hinterlassen hatte, sondern auch das honigfarbene Cottage, in dem sie aufgewachsen war, das unschätzbar wertvolle Versteck für die Briefe und ein in blaues Leder gebundenes Tagebuch.
Ein noch viel größerer Schock war die Entdeckung gewesen, dass Dimity zwar verstorben war, aber das Cottage nicht völlig verlassen hatte. Obwohl sie durch eine, wie man vielleicht sagen könnte, erhebliche Behinderung eingeschränkt war, besuchte sie auch weiterhin ihr altes Zuhause. Sie war zu höflich, um auf sich aufmerksam zu machen, indem sie in den Kaminen stöhnte oder im Zwielicht der Dämmerung am Fuß meines Bettes vorbeischwebte. Stattdessen schrieb sie mir, so wie sie auch meiner Mutter Briefe geschrieben hatte, und führte damit die Korrespondenz fort, wenn auch nur noch im blauen Buch.
Wann immer ich das Tagebuch aufschlug, erschien schon bald Dimitys Handschrift in der altmodischen Schreibweise, wie sie in einer Zeit an der Schule gelehrt worden war, als fließendes warmes Wasser noch als Luxus galt. Ich hatte keine Ahnung, wie Dimity es fertigbrachte, die Kluft zwischen Leben und Nach-Leben zu überbrücken – selbst sie war sich hinsichtlich der Technik nicht so sicher –, aber die Frage nach dem Wie war schon längst irrelevant geworden.
Meine Freundschaft mit Tante Dimity mochte das überraschendste aller Überraschungsgeschenke sein, aber es war eine mit
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