Tante Julia und der Kunstschreiber
küßte sie immer wieder. Sie war leicht errötet wie ein Mädchen vom Lande und sah sehr glücklich aus. »Schluß mit der Pornographie, ihr Egoisten, denkt gefälligst auch an mich«, beschwerte sich Javier. »Ich will von der kleinen Nancy sprechen.«
Die kleine Nancy war eine Cousine von mir, hübsch, sehr kokett, in die Javier verliebt war, seit er denken konnte, und hinter der er mit der Beständigkeit eines Jagdhundes her war. Sie hatte ihn bisher überhaupt nicht beachtet, die Dinge aber immer so geregelt, daß er glauben mußte, daß vielleicht, daß bald, daß das nächste Mal… Diese Vorromanze bestand schon seit unserer Schulzeit, und ich als Vertrauter, intimer Freund und Kuppler Javiers hatte alle Einzelheiten miterlebt. Da gab es unzählige Abfuhren, die die kleine Nancy ihm verpaßt hatte, unendlich viele Sonntags-Matineen, an denen sie ihn vor der Tür des Leuro warten ließ, während sie ins Colina oder ins Metro ging, unendlich oft war sie mit einem anderen Verehrer auf den Samstagsfesten erschienen. Das erste Besäufnis meines Lebens hatte ich zusammen mit Javier, als wir seinen Liebeskummer mit Capitanes und mit Bier in einer kleinen Bar in Surquillo ertränkten. Das war, als er erfuhr, daß die kleine Nancy mit dem Studenten der Agronomie Eduardo Tiravanti ging. (Der war in Miraflores sehr beliebt, weil er eine brennende Zigarette in den Mund stecken konnte und sie dann wieder rauszog und weiterrauchte, als wäre nichts gewesen.) Javier beklagte sich bitterlich, und ich sollte nicht nur sein Tränentuch sein, sondern hatte auch noch die Aufgabe, ihn in seine Pension und ins Bett zu bringen, wenn er einen komaartigen Zustand erreicht haben würde. (»Ich trinke, bis es mir aus den Ohren herauskommt«, hatte er mich gewarnt, Jôrge Negrete imitierend.) Aber ich war es, der schließlich gänzlich hinüber war mit geräuschvollem Erbrechen und einem Anfall von blauen Teufeln, in dessen Verlauf ich – das war die gemeine Version von Javier – auf die Theke stieg und den Besoffenen, Nachtschwärmern und Zuhältern, aus denen die Kundschaft von El Triunfo bestand, eine Rede hielt:
»Laßt die Hosen runter, ihr steht vor einem Dichter.« Immer noch warf er mir vor, daß ich, statt mich um ihn zu kümmern, ihn in jener traurigen Nacht zu trösten, ihn dazu gezwungen hatte, mich in so aufgelöstem Zustand durch die Straßen von Miraflores bis zur Villa in der Ocharan zu schleifen und meiner erschrockenen Großmutter meine Überreste mit dem unüberlegten Kommentar zu übergeben: »Frau Carmencita, ich glaube, der Varguitas stirbt uns weg.« Inzwischen war die kleine Nancy mit einem halben Dutzend Miraflorinern gegangen und hatte sie wieder stehenlassen, und auch Javier hatte Freundinnen gehabt, aber sie kühlten seine große Liebe zu meiner Cousine nicht ab, sondern verstärkten sie. Er hatte sie weiter angerufen, sie besucht, sie eingeladen, sich ihr erklärt, ungerührt von den Abfuhren, den ungezogenen Reaktionen, den Ausbrüchen und Körben meiner Cousine. Javier war einer dieser Männer, die die Leidenschaft über den Stolz stellen können, und der Spott all seiner Freunde aus Miraflores, bei denen seine Bemühungen um Nancy Stoff für viele Witze abgaben, berührte ihn überhaupt nicht. (Ein Junge schwor, er habe ihn an einem Sonntag gesehen, wie er mit folgendem Vorschlag auf die kleine Nancy zuging, als sie aus der n-Uhr-Messe kam: »Hallo Nancy, schöner Morgen, nicht, trinken wir was? Eine Cola, einen kleinen Schampus?«) Die kleine Nancy war einige Male mit ihm ausgegangen, ins Kino oder auf ein Fest. Meistens zwischen zwei Verehrern. Javier blühten dann große Hoffnungen, und er geriet in einen euphorischen Zustand. So war er heute, sprach gestikulierend, während wir Kaffee mit Milch und Sandwiches mit Chicharrones in dem Café an der Calle Belén aßen, das El Palmero hieß. Tante Julia und ich berührten uns unter dem Tisch mit den Knien. Wir hatten die Finger verschränkt, sahen uns in die Augen und hörten Javier wie eine Hintergrundsmusik von der kleinen Nancy sprechen.
»Die Einladung hat sie bestimmt beeindruckt«, erzählte er. »Denn kannst du mir sagen, welcher Hungerleider von Miraflores auf die Idee kommt, ein Mädchen zum Stierkampf einzuladen?«
»Wie hast du das gemacht?« fragte ich. »Hast du bei der Lotterie gewonnen?«
»Ich hab das Radio der Pension verkauft«, sagte er ohne die geringsten Gewissensbisse. »Man glaubt, die Köchin ist es gewesen, und hat sie als
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