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Tante Lisbeth (German Edition)

Tante Lisbeth (German Edition)

Titel: Tante Lisbeth (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Lästermaul hätte beim Anblick dieser Szene erkannt, wie falsch die Verleumdungen waren, die das Ehepaar Olivier gegen Lisbeth Fischer ausgesprochen hatte. Alles, Sprechweise, Bewegungen und Blicke der beiden bezeugten die Reinheit ihrer Beziehungen. Das alternde Mädchen äußerte die Zärtlichkeit einer zwar derben, aber aufrichtigen Mütterlichkeit, und der junge Mann ertrug wie ein gehorsamer Sohn die mütterliche Tyrannei.
    Diese seltsame Freundschaft beruhte darauf, daß hier ein kräftiger Wille unaufhörlich auf einen schwachen Charakter einwirkte, auf jene dem Slawen eigentümliche Haltlosigkeit, die zwar im Kriege wahrem Heldenmut weicht, sich im übrigen aber in einer unglaublichen Zerrissenheit äußert, deren Untersuchung wirklich einmal die Physiologen beschäftigen sollte. Die Physiologen sind für die soziale Wissenschaft, was die Insektenkenner für die Landwirtschaft sind.
    »Wenn ich aber nun sterbe, ehe ich reich geworden bin?« fragte Stanislaus schwermütig.
    »Sterben?« rief das alte Fräulein. »Aber ich lasse dich einfach nicht sterben! Ich habe Lebenskraft für zwei, und ich gäbe mein Blut für dich, wenn es nötig wäre.«
    Bei diesem stürmischen und so naiven Ausruf füllten sich Steinbocks Augen mit Tränen.
    »Nicht Trübsal blasen, Stanislauschen!« tröstete Lisbeth gerührt. »Hör mich einmal an! Ich glaube, dein Petschaft hat meiner Nichte Hortense sehr gefallen. Paß auf, ich bring es auch noch dahin, daß du deine Bronzegruppe verkaufst! Dann bist du deiner Schuld gegen mich ledig und kannst tun und lassen, was du willst. Dann bist du frei! Aber nun sei vergnügt!«
    »Ich werde stets in deiner Schuld bleiben«, entgegnete der arme Verbannte.
    »Wieso?« fragte die Tochter der Vogesen. Zugunsten des jungen Polen ergriff sie gegen sich selbst Partei.
    »Weil ich dir nicht nur Kost, Wohnung und Pflege im Elend verdanke, sondern weil du mir zu alledem auch noch Kraft geschenkt hast! Du hast mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Zwar warst du oft hart zu mir, du hast mir oft weh getan ...«
    »Ich?« sagte sie. »Nun fangen deine Phantastereien von Poesie und Kunst wohl wieder an? Du verrenkst dir die Finger auf der Suche nach deinem Schönheitsideal und anderem nordischen Blödsinn! Schönheit ist nicht so viel wert wie die Wirklichkeit, und die Wirklichkeit bin ich! Du hast den Kopf voller Ideen? Das ist was Rechtes! Ich habe auch welche. Wozu nützt denn das, was man in sich hat, wenn man es nicht verwerten kann? Diejenigen, die Ideen haben, bringen es in der Welt nicht so weit wie die, die keine haben. Man muß sich nur ordentlich rühren. Arbeiten solltest du, statt dich in Träumereien zu verlieren! Was hast du zum Beispiel heute fertiggebracht, während ich fort war?«
    »Was hat deine hübsche Nichte gesagt?« lenkte er ab.
    »Wer hat dir gesagt, daß sie hübsch ist?« fuhr Lisbeth auf, in einem Tone, in dem die Eifersucht einer Tigerin grollte.
    »Du selber!«
    »Dann habe ich das nur gesagt, um zu sehen, was für ein Gesicht du dazu machst! Willst du denn ein Schürzenjäger werden? Du liebst die Frauen: gut, schaffe dir welche! Laß deine Sehnsucht in Bronze erstehen! Du wirst dich wohl noch eine Weile ohne Liebschaften behelfen müssen und besonders ohne meine Nichte, mein lieber Freund. Die ist nichts für dich. Die braucht einen Mann mit sechzigtausend Francs Jahreseinkommen – und so einer hat sich auch bereits gefunden ... Donnerwetter, dein Bett ist noch gar nicht gemacht, armer Junge! Das hab ich ganz vergessen.«
    Sogleich legte das kräftige Mädchen Handschuhe, Mantel und Hut ab und richtete wie eine Magd geschickt und rasch das kleine Bett her, in dem der Künstler schlief. Die Mischung von Derbheit, ja Härte, und von Güte in ihr erklärt die Macht, die Lisbeth über den jungen Mann gewonnen hatte, den sie gewissermaßen als ihr Eigentum betrachtete. Das Leben fesselt uns nun einmal durch seinen Wechsel von Gut und Böse. Wäre dem jungen Polen an Lisbeths Stelle eine Frau Marneffe begegnet, so hätte er in dieser Beschützerin nur eine Führerin in Schmutz und Schande gefunden. Er wäre endlich verdorben. Gearbeitet hätte er dann gewiß nicht, und niemals wäre der Künstler in ihm erwacht. Obwohl er zuweilen unter der herrischen Zuneigung des alten Mädchens geradezu litt, so sagte ihm doch sein Verstand, daß er diese eiserne Zucht dem faulen und verderblichen Leben vorziehen müsse, das so mancher der polnischen Flüchtlinge in Paris führte.
    Das

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