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Tante Lisbeth (German Edition)

Tante Lisbeth (German Edition)

Titel: Tante Lisbeth (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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merkwürdige Zusammenleben dieser energischen Frau mit diesem männlichen Schwächling war folgendermaßen entstanden:
    Man schrieb das Jahr 1833. Fräulein Fischer arbeitete zuweilen, wenn sie gerade sehr viel zu tun hatte, bis tief in die Nacht hinein. Einmal gegen ein Uhr nachts nahm sie einen starken Kohlengasgeruch wahr und hörte Stöhnen wie von einem Sterbenden. Der Geruch und das Röcheln kamen aus der Dachwohnung über ihren beiden Zimmern. Blitzschnell erstand ihr der Gedanke, daß der junge Mann da oben, der kürzlich in die seit drei Jahren leerstehende Mansarde gezogen war, offenbar einen Selbstmordversuch begangen habe. Rasch eilte sie hinauf, drückte die Tür mit der ganzen Kraft einer stämmigen Lothringerin ein und erblickte den jungen Mann, der auf einem Gurtbett im Todeskampf lag. Sie erstickte die Kohlenglut, stieß das Fenster auf, so daß frische Luft hereinströmte – und der Verbannte war gerettet.
    Nachdem Lisbeth den jungen Mann wie einen Kranken gebettet hatte und er eingeschlafen war, schaute sie sich in der Stube um. Also Armut war die Ursache zum Selbstmord gewesen! Das sah sie an der völligen Kahlheit der Dachkammer, in der nichts stand als ein elender Tisch, das Gurtbett und zwei Stühle.
    Auf dem Tisch lag ein Blatt Papier. Sie las:
    »Man soll bei niemandem die Schuld an meinem Tode suchen; die Erklärung für meinen Selbstmord liegt in Kosciuszkos Ausruf: Finis Poloniae! Als Großneffe eines ruhmvollen Generals Karls XII. wollte ich nicht betteln gehen. Meine schwache Gesundheit verbietet mir den Dienst in der Armee. Gestern sind die hundert Taler, mit denen ich von Dresden nach Paris gekommen bin, zu Ende gegangen. Fünfundzwanzig Francs liegen im Tischkasten für die Miete, die ich dem Wirt schulde. Da ich keine Eltern mehr habe, gibt es niemanden, der an meinem Tode Anteil nehmen könnte. Ich bitte meine Landsleute, der französischen Regierung keine Vorwürfe zu machen. Ich habe mich nicht als Verbannter zu erkennen gegeben. Ich habe um nichts gebeten und habe mit keinem andern Verbannten verkehrt. Niemand in Paris weiß von meiner Existenz. Mit mir stirbt der Letzte derer von Steinbock. Ich bin geboren zu Preli in Livland.
    Stanislaus Graf Steinbock.«
    Lisbeth war tiefgerührt von der Ehrlichkeit des Lebensmüden, der noch daran gedacht hatte, seine Miete zu bezahlen. Sie öffnete den Tischkasten; drin lagen wirklich fünf Fünffrancsstücke.
    »Armer junger Mensch!« rief sie aus. »Niemand ist auf der Welt, der sich seiner annähme!«
    Sie stieg in ihre Wohnung hinunter und kam gleich darauf wieder mit ihrer Arbeit zurück, die sie in der Dachkammer fortsetzte, wobei sie beständig ein wachsames Auge auf den schlafenden livländischen Edelmann hatte.
    Man kann sich leicht vorstellen, wie erstaunt dieser war, als er beim Erwachen eine Frau an seinem Bette sitzen sah. Er glaubte zu träumen. Während die alte Jungfer so dasaß und an einer goldenen Achselschnur für eine Uniform arbeitete, hatte sie sich fest vorgenommen, sich dieses schlafenden jungen Mannes, der ihr gefiel, anzunehmen. Als der junge Graf wach geworden war, sprach ihm Lisbeth Mut zu und fragte ihn aus, um dadurch zu erfahren, womit er wohl seinen Lebensunterhalt verdienen könne. Stanislaus erzählte seinen Lebenslauf und fügte hinzu, er habe ehedem seine Anstellung seinen anerkannten künstlerischen Fähigkeiten zu verdanken gehabt. Zur Bildhauerkunst hätte er von jeher eine Neigung, aber die Studienzeit wäre für einen mittellosen Menschen allzulang. Auch sei er augenblicklich viel zu schwach zur Ausübung eines Handwerks oder gar der Bildhauerkunst im großen Stile. Das alles war unverständlich für Lisbeth Fischer. Sie erwiderte dem Unglücklichen, Paris habe so viel Hilfsquellen, daß sich ein Mensch mit einigem guten Willen hier unbedingt durchschlagen müsse. Tatkräftige Menschen gingen hier nie unter, wenn sie nur einen gewissen Grundstock von Ausdauer mitbrächten.
    »Ich bin nur ein armes Mädel vom Lande«, sagte sie zum Schluß, »aber trotzdem habe ich mir hier eine gewisse Unabhängigkeit geschaffen. Hören Sie mich an! Wenn Sie ernstlich arbeiten wollen: ich habe einige Ersparnisse und will Ihnen jeden Monat das zum Leben nötige Geld borgen, aber zu einem geregelten Leben, nicht zum Bummeln und Liederlichsein. Man kann in Paris für einen Franc zu Mittag essen, und Ihr Frühstück bereite ich Ihnen jeden Morgen mit dem meinen zusammen. Auch will ich Ihr Zimmer einrichten und Ihnen die

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