Tante Lisbeth (German Edition)
Vermögensmesser in den Pariser Familien. Eine Kräutersuppe, Kalbfleisch mit Kartoffeln, das in einer rötlichen Brühe schwamm, die Bouillon vorstellen sollte, eine Schüssel Bohnen, Kirschen minderwertiger Sorte, alles auf arg beschädigten Tellern und Schüsseln, dazu leichte ärmliche Neusilberbestecke. Das war kein Tisch für eine hübsche junge Frau! Das zu sehen, hätte den Baron zu Tränen gerührt. Die trüben Karaffen verbargen nicht genug die abscheuliche Farbe des Weins, der literweise vom Weinhändler an der nächsten Ecke geholt wurde. Die Mundtücher waren seit acht Tagen im Gebrauch. Kurzum, alles verriet eine würdelose Armut und mangelnden Sinn für Gemütlichkeit bei Mann und Frau. Selbst der oberflächlichste Beobachter hätte erkannt, daß diese beiden Menschen an jenem verhängnisvollen Punkt angelangt waren, wo der Druck des Lebens Betrug und Selbstbetrug heranruft.
Nach den ersten Worten, die der Verzögerung des Mittagessens galten, berichtete Valerie: »Samamon will deinen Wechsel nur zu fünfzig Prozent annehmen. Außerdem verlangt er als Sicherheit eine Abtretung deines Gehaltes.«
Das allgemeine Beamtenelend!
»Was soll nun aus uns werden?« fragte Marneffe. »Der Hauswirt wird uns morgen kündigen. Zu dumm, daß dein Vater es fertiggebracht hat, ohne Testament zu sterben! Na ja, diese alten Leute aus der Kaiserzeit bilden sich alle miteinander ein, sie seien unsterblich wie ihr Kaiser.«
»Mein armer Vater!« sagte Valerie. »Ich war sein einziges Kind. Er hing so an mir! Die Gräfin muß das Testament vernichtet haben! Wie hätte er mich vergessen können, wo er uns so manches Mal drei oder vier Tausendfrancsscheine auf einmal brachte!«
»Frau, wir sind vier Raten der Miete schuldig; das macht fünfzehnhundert Francs. Ist unser Mobiliar so viel wert? Das ist die Frage! sagte schon Shakespeare.«
»Auf Wiedersehen, Alter!« sagte Valerie, die nur ein paar Bissen von dem Fleisch gegessen hatte, aus dem die Köchin vorher eine gute Bouillon für einen tapferen Vaterlandsverteidiger, der eben aus Algier heimgekehrt war, gekocht hatte. »Hier kann nur noch ein Radikalmittel helfen!«
»Wohin, Valerie?« rief Marneffe und vertrat seiner Frau den Weg zur Tür.
»Ich will einmal mit unserem Wirt sprechen!« antwortete sie und ordnete ihre Locken unter dem hübschen Hut. »Und du solltest versuchen, dich mit der alten Jungfer da oben gut zu stellen, wenn sie wirklich eine nahe Verwandte deines Chefs ist.«
Die Unwissenheit der einzelnen Mieter ein und desselben Hauses über sich und ihre gegenseitige gesellschaftliche Lage zeigt am deutlichsten, mit welch rasender Schnelligkeit sich das Pariser Leben abspielt. Zudem ist es leicht verständlich, daß ein Beamter, der jeden Tag frühzeitig in seine Kanzlei geht, mittags nur zum Essen heimkommt und abends wieder ausgeht, und ebenso, daß eine Frau, die den Vergnügungen von Paris nachläuft, nichts vom Dasein einer alten Jungfer wissen können, die im dritten Stock nach dem Hof hinaus wohnt, besonders wenn diese alte Jungfer eine Lebensweise führt wie Fräulein Fischer.
Als erste im ganzen Hause und ohne mit irgendwem zu sprechen, pflegte Tante Lisbeth jeden Morgen auszugehen, um Milch, Brot und Kohlen einzuholen. Abends ging sie mit Sonnenuntergang zu Bett; nie empfing sie Briefe oder Besuche. Sie führte eine jener anonymen sich einspinnenden Existenzen, wie man sie in manchen Häusern findet, wo man beispielsweise erst nach Jahren zufällig erfährt, daß oben im vierten Stock ein alter Herr wohnt, der noch Voltaire, Pilâtre de Rozier, Beaujon, Marcel, Molé, Sophie Arnould, Franklin und Robespierre gekannt hat.
Was Herr und Frau Marneffe eben über Lisbeth Fischer gesagt, hatten sie aus der Einsamkeit dieses Pariser Viertels erfahren und durch ihre aus Verzweiflung angeknüpften Beziehungen zu den Hausmannsleuten, auf deren Wohlwollen das Ehepaar allzusehr angewiesen war. Sie waren deshalb ängstlich bemüht, es sich zu erhalten.
Der Stolz, die Schweigsamkeit und das zurückgezogene Wesen der alten Jungfer hatten bei den Pförtnersleuten einen gewissen übertriebenen Respekt zur Folge gehabt, andrerseits aber auch jenes Übelwollen, das ein untrügliches Zeichen für das – wenn auch uneingestandene – Mißvergnügen des Tieferstehenden ist. Im übrigen hielten sie sich für ebensoviel wie eine Mieterin, die nur zweihundertundfünfzig Francs Miete zahlte.
Die vertraulichen Mitteilungen, die Tante Lisbeth ihrer jungen
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