Tanz auf Glas
erinnere mich, dass er sich noch näher zu mir beugte und fragte: »Willst du sie hören?«
»Geheimnisse?«, wiederholte ich. Das klang mir ein wenig weit hergeholt, aber mein Vater belog mich nie, also hörte ich aufmerksam zu.
»Lulu, drei Dinge über den Tod kann ich dir versprechen. Ich verspreche dir, dass der Tod nicht das Ende ist. Es fühlt sich vielleicht so an – deswegen weinen die Menschen –, aber das stimmt nicht. Und er tut nicht weh. Das ist nämlich noch ein Teil des Todes, vor dem die Menschen Angst haben, wenn sie nicht Bescheid wissen. Der Tod tut nicht weh. Und drittens, Lu – wenn du keine Angst vor dem Tod hast, kannst du nach ihm Ausschau halten und vorbereitet sein. Glaubst du mir?«
Sein Gesicht war so ernst, so verlässlich, dass ich nur nickte. »Wie sieht er denn aus?«
»Das weiß ich nicht genau, aber er muss hübsch sein.«
»Ist er nett?«
»Sehr nett, und sehr sanft.« Dann erklärte er meinem kleinen Verstand, der all das in sich aufsog, dass der Tod nicht dasselbe sei wie Sterben. Dass Sterben manchmal tatsächlich weh tue, aber ein Zauber dazugehöre, so dass man den Schmerz gleich wieder vergesse, als hätte es ihn nie gegeben. Darauf folgte eine längere Diskussion über all die abscheulichen Möglichkeiten, wie ein Mensch sterben kann, und wie schön es sei, dass man das Scheußliche wieder vergessen durfte. Ich muss recht skeptisch gewirkt haben, was seltsam ist, weil ich nicht daran zweifelte, was er mir erzählte. Jedenfalls sagte mein Dad: »Lulu, erinnerst du dich daran, wie du geboren wurdest?«
Ich weiß noch, dass ich ernsthaft überlegte und dann antwortete: »Nein.«
Er nickte. »Siehst du, genauso ist das mit dem Tod. Man vergisst es einfach.«
Ich staunte. Vater hatte recht. Er hatte immer recht. Ich kann mich nicht an alles erinnern, was mein Vater damals gesagt hat, aber ich erinnere mich genau daran, wie sich das Rätsel des Todes für mich an jenem Abend in seinem ehrlichen Blick auflöste. Ich vertraute ihm vollkommen, und seine Worte sind mir unvergesslich, wie in meiner erwachsenen Seele zu Stein geworden. Natürlich ist mir klar, dass sie nur ein Geschenk an meine Unschuld waren – Worte, die ein kleines Mädchen beruhigen sollten, weil es nicht schlafen konnte. Aber wer hätte gedacht, dass diese Ruhe, die er mir schenkte, mich sicher durch so viele Verluste führen und mich auffangen würde, als ich mich beinahe selbst verlor?
Natürlich hatte er recht: Der Tod holt jeden Menschen irgendwann. Aber wenn er nicht das Ende ist und nicht weh tut … na ja, was gibt es da groß zu fürchten?
Das war jedenfalls die Denkweise meines fünfjährigen Selbst. Als der Tod auf Priscillas Geburtstagsparty erschien, war ich deshalb fasziniert, aber nicht erschrocken.
Die Party fand in unserem Garten statt. Auf dem Grill zischten Hamburger, Kühlboxen quollen über vor Bier und Saft, und Mom steckte Kerzen auf Priss’ Kuchen. Abgesehen von der halben Junior Highschool waren auch viele Freunde meiner Eltern eingeladen. Jan und Harry Bates von nebenan versuchten ihren albernen Sohn davon abzuhalten, meine Schwester Lily mit seinem Frettchen zu jagen. (Die beiden waren neun Jahre alt, aber ich wusste schon damals, dass Lily eines Tages Ron Bates heiraten würde. Alle wussten das.) Dr. Barbee war da, die Withers, denen das Bestattungsinstitut ein paar Häuser weiter gehörte, und Dads Polizisten-Freunde – sogar der Bürgermeister war gekommen.
Ich verteilte gerade Pappteller auf dem Picknicktisch, als ich sie bemerkte. Ich wusste sofort, wer sie war, die Todesfee, und ihre Gegenwart erschien mir gar nicht bedrohlich oder falsch. Sie sah tatsächlich so aus, als sei sie ganz freundlich, obwohl ich mir da inzwischen nicht mehr so sicher bin. Wenn ich sie beschreiben sollte, könnte ich das nicht, denn wie beschreibt man das Gefühl, das von einer Erscheinung ausgeht? Heute denke ich, dass wohl eher eine Art urtümliches Wissen eine Gestalt annahm, die etwas in mir erkannte. Ich habe sie seither noch mehrmals gesehen, und für mich persönlich ist der Tod weiblich, doch das beruht eher auf Instinkt und auf meinem Eindruck als auf irgendetwas, das man als Beweis bezeichnen könnte. Dennoch würde ich sie überall erkennen.
Ihre Gegenwart machte mir überhaupt keine Angst. Im Gegenteil, ich erinnere mich, wie berauschend sich ihr Flüstern anhörte, das den fröhlichen Lärm überlagerte, obwohl ich kein Wort davon verstand. Ich sah zu, wie sie
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