Tanz der seligen Geister (German Edition)
lieben. Für sie ist kein Talent unerwartet, kommt keine Sternstunde überraschend.
Das Mädchen hat geendet. Die Musik ist im Zimmer, und dann ist sie fort, und erst einmal weiß niemand, was er sagen soll. Denn sobald sie geendet hat, wird deutlich, dass sie genau dieselbe wie zuvor ist, einMädchen aus der Greenhill School. Aber die Musik war kein Traum. Diese Tatsachen lassen sich nicht miteinander in Einklang bringen. Und so entsteht nach ein paar Minuten der Eindruck, ihr Spiel sei trotz seiner Unschuld so etwas wie ein Trick – ein sehr erfolgreicher und unterhaltsamer Trick, das ja, aber vielleicht – wie soll man sagen? – vielleicht kein sehr geschmackvoller . Daher möchte niemand über die Begabung des Mädchens reden, die unbestreitbar ist, aber im Grunde sinnlos, fehl am Platz. Miss Marsalles hat mit so etwas keine Probleme, aber andere Menschen, Menschen, die in der Welt leben, haben damit sehr wohl welche. Trotzdem müssen sie etwas sagen, und so sprechen sie dankbar von der Musik selbst, sagen: Wie entzückend, was für ein schönes Stück, wie heißt es?
»Der Tanz der seligen Geister«, sagt Miss Marsalles. Danse des ombres heureuses, fügt sie hinzu, was niemandem weiterhilft.
Aber als wir dann nach Hause fahren, aus den heißen Backsteinstraßen und der Stadt hinaus, als wir Miss Marsalles und ihre nunmehr unmöglichen Feste ganz bestimmt für immer hinter uns lassen, warum können wir da nicht sagen – wie wir es doch sicher vorhatten –: Die arme Miss Marsalles ? Es ist der Tanz der seligen Geister, der uns davon abhält, es ist dieses eine Kommuniqué aus jenem anderen Land, in dem sie lebt.
Zur Autorin und zu ihrer Übersetzerin
Alice Munro , 1931 in Ontario geboren, gehört zu den renommiertesten Autorinnen der Gegenwart. Sie hat zahlreiche Erzählungsbände und einen Roman veröffentlicht. Tanz der seligen Geister war ihr Debütband, der 1968 bei Ryerson Press in Toronto erschien und hiermit nun erstmals auf Deutsch vorliegt. Für ihr umfangreiches literarisches Werk wurde sie mit unzähligen Preisen ausgezeichnet, zuletzt 2009 mit dem renommierten Man Booker International Prize. Alice Munro lebt in Ontario und in British Columbia.
In Vorbereitung im Dörlemann Verlag ist Alice Munros zweiter Erzählband Something I’ve Been Meaning To Tell You (1974), dessen deutsche Erstveröffentlichung für das Frühjahr 2012 in Planung ist. Ihre neueren Werke erscheinen in deutscher Übersetzung im S. Fischer Verlag.
Heidi Zerning übersetzt seit vielen Jahren englische und amerikanische Literatur, unter anderen Truman Capote, Steve Tesich, Virginia Woolf und eben Alice Munro, als deren »deutsche Stimme« sie gilt.
Zum Buch
Tanz der seligen Geister war das Debüt der großen Meisterin der kleinen Form. Die vorliegenden fünfzehn Erzählungen erschienen 1968 unter dem Titel Dance of the Happy Shades im Original und werden nun erstmals auf Deutsch herausgegeben. Bereits hier zeigt sich Alice Munro als präzise, unsentimentale und abgründige Chronistin zeitgenössischen Alltagslebens. Stehen in ihren späteren Büchern Frauen mittleren Alters im Vordergrund, so finden sich in Tanz der seligen Geister vor allem Erzählungen vom Erwachsenwerden.
»Sie versteht es, aus wenigen Szenen ein ganzes Leben zu entfalten. Mehr noch: Sie zeigt das nicht gelebte Leben, die Wünsche und Sehnsüchte, die sich unter dem Alltag verbergen und die nur in besonderen Augenblicken spürbar werden.«
Jörg Magenau, Deutschlandradio Kultur
»Ich denke vor allem an die Kanadierin Alice Munro, mit der es auf diesem Planeten allenfalls eine Handvoll Schriftsteller aufnehmen kann. Sie hat im Bereich der Kurzgeschichte Tschechow übertroffen, und der war nicht gerade ein Anfänger.«
Jonathan Franzen in einem Interview in der Zeit
auf die Frage nach möglichen nordamerikanischen
Nobelpreisträgern
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