Tanz der seligen Geister (German Edition)
Schinken.
Aber als sie an diesem Morgen aufwachte, wurde es im Hinterzimmer gerade erst hell; sie konnte so eben die Beschriftung auf den Kartons entziffern. Heinz Tomatensuppe, las sie. Golden Valley Aprikosen. Sie hatte sich das Ritual ausgedacht, die Buchstaben durch drei zu teilen; wenn sie aufgingen, bedeutete das, der Tag würde ihr Glück bringen. Während sie rechnete, meinte sie, ein Geräusch zu hören, als sei jemand auf dem Hof; ein wunderbares Unbehagen erfasste ihren Körper von den Fußsohlen her, so dass sie die Zehenkrümmte und die Beine ausstreckte, bis sie das Ende der Couch erreichten. Ihr ganzer Körper fühlte sich an, wie sich ihr Kopf anfühlte, kurz bevor sie niesen musste. Sie stand so leise wie nur möglich auf und ging behutsam über die kahlen Bretter des Hinterzimmers, die unter ihren Füßen sandig federten, zum rauen Küchenlinoleum. Sie hatte ein altes Baumwollnachthemd von Hazel an, das weich und geisterhaft um sie wallte.
Die Küche war leer; die Uhr tickte achtsam auf dem Bord über dem Ausguss. Einer der Wasserhähne tropfte, und darunter lag der zu einem Kissen zusammengefaltete Spüllappen. Das Zifferblatt der Uhr verschwand fast hinter einer reifenden gelben Tomate und einer Büchse mit Puder, den ihre Großmutter für ihr Gebiss benutzte. Zwanzig vor sechs. Sie ging zur Fliegentür; als sie am Brotkasten vorbeikam, langte eine Hand eigenmächtig hinein und kam mit zwei Zimtbrötchen heraus, in die sie hineinbiss, ohne hinzuschauen; sie waren ein bisschen trocken.
Der Hinterhof war zu dieser Tageszeit fremd, feucht und schattig; die Felder lagen grau, und die üppigen Sträucher entlang der Zäune mit ihren Spinnweben saßen voller Vögel; der Himmel war blass, kühl, hell geriffelt und rötlich am Rand, wie das Innere einer Muschel. Es gefiel ihr, dass ihre Großmutter und Hazel nicht da waren, dass sie immer noch schliefen. Noch niemand hatte an diesem Tag gesprochen; seine Reinheit erstaunte sie. Ihr kam eine vage Vorahnung von Freiheit und Gefahr, wie ein Streifen Dämmerung am Himmel. Um die Ecke des Hauses, da, wo der Holzstoß war, hörte sie ein leises, dürres, klapperndes Geräusch.
»Wer ist da?«, sagte May mit lauter Stimme, nachdem sie einen Mundvoll Zimtbrötchen hinuntergeschluckt hatte. »Ich weiß, dass Sie da sind«, sagte sie.
Ihre Großmutter kam ums Haus, sie trug etwas Anmachholz in der Schürze und gab unverständliche Laute der Verärgerung von sich. Ihr Anblick überraschte May eigentlich nicht, sondern löste eine sonderbare Enttäuschung aus, die sich vom gegenwärtigen Augenblick dünn in alle Bereiche ihres Lebens auszubreiten schien, vergangene und zukünftige. Sie hatte das Gefühl, sie konnte hingehen, wo sie wollte, ihre Großmutter würde vor ihr da sein: Alles, was sie herausfand, würde ihre Großmutter schon wissen, oder sie würde beweisen können, dass es belanglos war.
»Ich dachte, jemand ist auf dem Hof«, sagte sie zu ihrer Verteidigung. Ihre Großmutter sah sie an, als sei sie ein Ofenrohr, und ging in die Küche voraus.
»Ich hab nicht gedacht, dass du so früh aufstehst«, sagte May. »Wieso bist du so früh aufgestanden?«
Ihre Großmutter antwortete nicht. Sie hörte alles, was man zu ihr sagte, aber sie antwortete nur, wenn ihrdanach war. Sie begab sich an die Arbeit und machte Feuer im Herd. Sie war fertig angezogen, trug ein bedrucktes Baumwollkleid, eine blaue Schürze, die über dem Bauch aufgeraut und schmutzig war, eine offene, sich aufräufelnde Strickjacke von unbestimmbarer Farbe, die einmal ihrem Mann gehört hatte, und Segeltuchschuhe. Die Sachen hingen an ihr herunter trotz ihrer Versuche, sich ordentlich herzurichten; das lag daran, dass ihr Körper keine vernünftige Form hatte, an die Kleidung sich anschmiegen konnte; sie war ganz schmal und flach, bis auf die kleine Rundung in Höhe ihres Magens, als sei sie im vierten Monat schwanger, die sich grotesk unter ihrer knochigen Brust wölbte. Sie hatte knotige, fleischlose Beine, und ihre Arme waren braun, von Adern überzogen und krumm wie Peitschen. Ihr Kopf war ziemlich groß für ihren Körper, und mit den fest über den Schädel gezogenen Haaren sah sie aus wie ein unterernährtes, aber boshaft intelligentes Baby.
»Geh wieder zu Bett«, sagte sie zu May. May ging stattdessen zum Küchenspiegel, kämmte sich die Haare und wand sie um den Finger, um zu sehen, ob sie schon für eine Innenrolle reichten. Ihr war eingefallen, dass heute Eunie Parkers
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