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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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im August auf die Insel eingeladen«, sagte er.
    Jemand auf der Terrasse rief ihn, und er ging hinaus, bewegte sich dabei mit der grazilen, fast spöttischen Verstohlenheit mancher schmächtiger Menschen. Alva stand immer noch mit dem Rücken zur Anrichte.
    Die Berührung dieses Fremden hatte sie entspannt; ihr Körper war einfach dankbar und erwartungsvoll, und sie empfand eine Unbeschwertheit und eine Zuversicht, die sie in diesem Haus noch nicht gekannt hatte. Es gab also Dinge, die sie nicht in Betracht gezogen hatte, bei ihr selbst, bei den anderen, und Möglichkeiten, mit ihnen zu leben, die nicht völlig unrealistisch waren. Jetzt würde es ihr nichts ausmachen, an die Insel zu denken, an die kahlen, sonnigen Felsen und die kleinen schwarzen Kiefern. Sie sah die Insel jetzt anders; es konnte sogar sein, dass sie Lust bekam, dorthinzu fahren. Aber es kam immer vieles zusammen; es gab etwas, das sie noch nicht erkunden mochte – eine empfindliche Stelle, eine neue und bislang noch rätselhafte Demütigung.

Ein Ausflug an die Küste
    Der Ort namens Black Horse ist sogar auf der Landkarte eingezeichnet, aber dort gibt es nichts als einen Laden, drei Häuser, einen alten Friedhof und einen Pferdestall, der zu einer Kirche gehörte, die abgebrannt ist. Im Sommer ist es ein heißer Ort, ohne Schatten auf der Straße und ohne Wasserlauf in der Nähe. Die Häuser und der Laden sind aus Ziegelsteinen von einer ausgeblichenen, gelblich braunen Farbe gebaut, wahllos ausgeschmückt mit grauen oder weißen Ziegelsteinen in den Schornsteinen und um die Fenster. Die Felder dahinter stehen voller Wolfsmilch, Goldrute und großer violetter Disteln. Leuten, die durchfahren, auf dem Weg zu den Seen von Muskoka und dem nördlichen Waldland, mag auffallen, dass von hier an die üppige Landschaft spärlicher und flacher wird, abgewetzte Ellbogen aus Stein schauen aus den kleiner werdenden Feldern, und die weiten, einladenden Waldstücke aus Ulmen und Ahorn machen dichterem, weniger gastfreundlichem Buschwald aus Birken und Pappeln, Fichten und Kiefern Platz – in der Hitze des Nachmittags werden die spitzen Bäume am Ende der Straße blau und durchsichtig und ziehen sich in die Ferne zurück wie eine Schar Gespenster.
    May lag in dem großen Raum voller Kartons hinter dem Laden. Da schlief sie im Sommer, wenn es oben zu heiß wurde. Hazel schlief im Vorderzimmer auf dem Sofa und ließ die halbe Nacht lang das Radio laufen; ihre Großmutter schlief immer noch oben, in einem engen kleinen Zimmer voll großer Möbel und alter Fotos, das nach heißem Wachstuch und den Wollstrümpfen alter Frauen roch. May vermochte nicht zu sagen, wie spät es war, denn sie wurde kaum je so früh wach. Wenn sie sonst morgens aufwachte, lag ein heißer Sonnenfleck auf dem Boden zu ihren Füßen, die Milchwagen der Farmer ratterten auf der Straße vorbei, und ihre Großmutter trabte hin und her zwischen dem Laden und der Küche, wo sie eine Kanne Kaffee und eine Pfanne mit dickem Schinken auf den Herd gestellt hatte. Wenn sie an der alten Verandacouch vorbeikam, auf der May schlief (deren Polster immer noch schwach nach Schimmel und Kiefern rochen), zog sie automatisch an der Decke und sagte: »Aufstehen, steh schon auf, oder willst du bis zum Abendbrot schlafen? Ein Mann ist draußen, der will Benzin.«
    Und wenn May nicht aufstand, sondern die Decke festhielt und unwirsch brummte, kam ihre Großmutter das nächste Mal mit ein bisschen kaltem Wasser in einer Schöpfkelle, das sie ihrer Enkelin im Vorbeigehen auf die Füße kippte. May sprang dann auf und strich sich ihre lange Mähne aus dem Gesicht, das vorVerschlafenheit verdrossen war, aber nicht voller Groll; sie nahm die Regeln ihrer Großmutter hin, wie sie einen Regenschauer oder Bauchschmerzen hinnahm, mit der festen Gewissheit, dass solche Dinge vorübergingen. Sie zog unter dem Nachthemd alle ihre Sachen an, ohne die Arme in die Ärmel zu stecken; sie war elf Jahre alt und in eine Phase heftigen Schamgefühls eingetreten, in der sie sich weigerte, sich in den Po impfen zu lassen und vor Wut schrie, wenn Hazel oder ihre Großmutter in das Zimmer kamen, in dem sie sich gerade anzog – was sie ihrer Meinung nach nur taten, um sich zu belustigen und um ihr Bedürfnis ins Lächerliche zu ziehen. Dann ging sie hinaus, versorgte das Auto mit Benzin und kam hellwach und hungrig zurück; zum Frühstück aß sie vier oder fünf getoastete Sandwiches mit Marmelade, Erdnussbutter und

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