Tanz der seligen Geister (German Edition)
ihren Hocker zum Ladentisch vorgetragen, saß da und unterhielt sich mit ihm. May wandte ihnen den Rücken zu und sah zur Ladentür hinaus. Die Wolken waren schmutzig; alleslag in einem verbrauchten, staubigen, unfreundlichen Licht, das nicht nur vom Himmel zu kommen schien, sondern auch von den niedrigen Mauern, den weißen Wegen, dem raschelnden grauen Strauchwerk und den Metallschildern, die im heißen, eintönigen Wind wippten. Seit ihre Großmutter ihr auf den Hinterhof gefolgt war, hatte sie ein Gefühl, als habe sich etwas verändert, als sei etwas zerbrochen; ja, es war dieses Licht ringsum, das sie neu wahrnahm. Und sie spürte auch etwas Neues an sich selbst – etwas wie Macht, etwas wie die unvermutete und noch unerkundete Macht ihrer eigenen Feindseligkeit, und sie nahm sich vor, eine Weile lang daran festzuhalten, sie umzuwenden wie eine kalte Münze in ihrer Hand.
»Für welche Firma sind Sie unterwegs?«, fragte ihre Großmutter. Der Mann antwortete: »Für eine Teppichfirma.«
»Lässt die einen Mann am Wochenende nicht zu seiner Familie nach Hause?«
»Ich bin im Moment nicht in Geschäften unterwegs«, sagte der Mann. »Wenigstens nicht in Teppichen. Man könnte sagen, ich bin aus privaten Gründen unterwegs.«
»Ach so«, sagte die alte Frau im Ton von jemandem, der sich nicht in private Dinge einmischt. »Meinen Sie, es wird regnen?«
»Kann sein«, sagte der Mann. Er trank einen großenSchluck Zitronenlimo, stellte die Flasche hin und wischte sich den Mund säuberlich mit dem Taschentuch ab. Er war einer von denen, die auch unaufgefordert von ihren Privatangelegenheiten reden; er redete sogar von nichts anderem. »Ich bin auf dem Weg zu einem Bekannten von mir, der sich in seinem Sommerhäuschen aufhält«, sagte er. »Er leidet so schlimm unter Schlaflosigkeit, dass er seit sieben Jahren keine Nacht mehr richtig geschlafen hat.«
»Ach so«, sagte die alte Frau.
»Ich will mal sehen, ob ich ihn davon heilen kann. Bei einigen Fällen von Schlaflosigkeit hatte ich ganz gute Erfolge. Nicht hundert Prozent. Aber ganz gut.«
»Sie sind auch Mediziner?«
»Nein, das bin ich nicht«, sagte der kleine Mann umgänglich. »Ich bin Hypnotiseur. Ein Amateur. Ich würde mich nie für etwas anderes als einen Amateur halten.«
Die alte Frau sah ihn einige Augenblicke lang an, ohne etwas zu sagen. Das störte ihn nicht; lebhaft und selbstzufrieden ging er im Laden umher, nahm dies oder jenes zur Hand und betrachtete es. »Ich wette, Sie sind noch nie im Leben jemandem begegnet, der gesagt hat, er ist Hypnotiseur«, sagte er scherzhaft zu der alten Frau. »Ich sehe aus wie alle anderen, nicht wahr? Ich sehe ziemlich harmlos aus.«
»Ich glaube nicht an all das Zeug«, sagte sie.
Er lachte nur. »Was meinen Sie damit, Sie glauben nicht daran?«
»Ich glaube nicht an irgend so was Abergläubisches.«
»Das ist kein Aberglaube, meine Dame, das ist eine klare Tatsache.«
»Ich weiß, was das ist.«
»Nun ja, viele Leute sind Ihrer Meinung, erstaunlich viele. Sie haben wohl nicht zufällig den Artikel gelesen, der vor zwei Jahren im Reader’s Digest über dieses Thema erschienen ist? Ich wünschte, ich hätte ihn bei mir«, sagte er. »Ich weiß nur, dass ich einen Mann von seiner Trunksucht geheilt habe. Ich habe Menschen von allen möglichen Juckreizen und Hautausschlägen und schlechten Angewohnheiten geheilt. Von schlechten Nerven. Ich behaupte nicht, dass ich alle von ihren nervösen Beschwerden heilen kann, aber einige Menschen, das kann ich Ihnen versichern, sind mir sehr dankbar gewesen. Sehr dankbar.«
Die alte Frau hob die Hände an den Kopf und antwortete nicht.
»Was haben Sie, meine Dame, fühlen Sie sich nicht wohl? Haben Sie Kopfschmerzen?«
»Mir geht’s gut.«
»Wie haben Sie diese Leute geheilt?«, fragte May kühn, obwohl ihre Großmutter ihr immer gesagt hatte:Lass dich ja nicht dabei erwischen, dass du im Laden mit Fremden sprichst.
Der kleine Mann schnellte aufmerksam herum. »Na, indem ich sie hypnotisiere, junge Dame. Ich hypnotisiere sie. Fragst du mich danach, was Hypnose ist?«
May, die keine Ahnung hatte, wonach sie fragte, wurde rot und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie merkte, dass ihre Großmutter sie starr ansah. Die alte Frau schaute May und die ganze Welt an, als stünden alle in Flammen und als könnte sie nichts daran ändern, ja, als könnte sie es ihnen nicht einmal mitteilen.
»Sie weiß nicht, was sie redet«, sagte ihre Großmutter.
»Das ist
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