Tanz im Mondlicht
Nach so vielen Jahren, in denen sie gemeinsam neben Tanzflächen gestanden hatten, waren Worte überflüssig. Sie hob fragend die Brauen, und er nickte.
»Ich hoffe, dass Ihre Mutter bald da ist«, sagte Sharon.
»Kommt Virginia auch?«, wollte Jane wissen und erkundigte sich nach Elis und Dylans Mutter.
»Nein«, erklärte Sharon. »Wir fürchteten, das sei ein bisschen zu viel für sie, die Begegnung mit so vielen Menschen und die Erkenntnis, was da vor sich geht. Ihr Gesundheitszustand ist seit einiger Zeit ziemlich schlecht. Sie gehört zu der Generation, die denkt, man müsse aus allem ein Geheimnis machen.«
»Genau wie meine Mutter«, sagte Jane.
Sharon schluckte. Sie wusste, dass die beiden Frauen maßgeblich dafür verantwortlich waren, dass Eli und sie Chloe adoptieren konnten. Und so dankbar Sharon ihnen dafür auch war, sie wusste, dass die Erinnerung daran zwiespältige Gefühle in Jane hervorrufen musste. Heute war indes ein Abend, an dem man sich näherkommen wollte, ohne Schuldzuweisungen oder Fluchtgedanken, so dass sie erleichtert war, als Jane lächelte.
»Ich freue mich, Ihre Mutter kennenzulernen«, sagte Sharon.
»Und sie freut sich auf Sie. Und –« Wieder biss sie sich auf die Zunge.
»Auf Chloe«, sagte Eli an ihrer Stelle, was Sharon wieder einmal vor Augen führte, warum sie ihn so sehr liebte. »Verständlich, dass sie den Wunsch hat, ihre Enkelin kennenzulernen.«
»Ja«, erwiderte Jane. »Den hat sie.«
Erfüllt von Lebensfreude und Dankbarkeit für die harmonische Stimmung, legte Sharon die Arme um ihren Mann und ließ sich von ihm zum Tanz führen.
Jane und Dylan blieben allein zurück. Sie trug ein weißes Kleid mit einer silbernen Gürtelschnalle, er ein schwarzes Hemd mit einer schmalen Krawatte. Sie fühlte sich noch immer befangen in seiner Gegenwart, seit jenem Tag, als er in New York auf der Straße gestanden hatte. Sie hatten, nach und nach, über das Vorgefallene geredet. Er hatte ihr verziehen oder zumindest beschlossen, ihr zu verzeihen; es war ihm schwergefallen, ihr seine Gefühle zu offenbaren, dass er geglaubt hatte, sie stünden sich nahe, und die Enttäuschung über den Verrat. Jane konnte es ihm nicht verdenken. Sie versuchte ihm begreiflich zu machen, wie groß ihr Bedürfnis gewesen war, Kontakt zu Chloe aufzunehmen: Es hatte sie ergriffen wie eine Flutwelle, so dass sie nicht anders konnte. Seither war das beidseitige Verständnis gewachsen, aber die Vertrautheit, die sie früher empfunden hatten, hatte sich noch nicht wieder eingestellt.
Als er nun seine Finger mit ihren verschränkte, schmolz sie dahin, hatte Angst, ihre Beine würden ihr den Dienst versagen.
»Komm mit.« Er zog sie mit sich.
»Was? Wohin?«
»Komm einfach mit.«
Die Kapelle spielte eine langsame romantische Weise, und Dylan führte sie aus dem Menschengewimmel heraus zu einer Leiter, die an der Scheunenwand befestigt war. Sie führte zu einer Luke in der Decke. Er bedeutete ihr, hinaufzuklettern. Sie tat wie geheißen – stieg Sprosse für Sprosse die Leiter hoch auf den Heuboden. Oben angekommen, forderte er sie mit einer Geste auf, im Heu Platz zu nehmen. Sie zögerte. Also legte er seinen Arm um sie und zog sie hinunter.
»Wir müssen reden«, sagte er und legte sich neben sie ins Heu.
»Ja.« Sie war überrascht, dass er im Liegen mit ihr reden wollte, ihre Gesichter kaum mehr als eine Handbreit voneinander entfernt.
»Ich habe dich gefragt, warum, und du hast es mir gesagt.«
»So gut ich konnte«, erwiderte Jane still und sah in seine grünen Augen. Sie hatte diese Augen vermisst …
»Ich habe Antworten satt«, sagte er.
»Ich weiß. Und ich habe es satt, sie zu geben.«
»Jane.«
»Dylan«, flüsterte sie. Zärtlich berührte sie seine Wangen und er die ihren. Ihre Finger streiften seinen Bart. Sie dachte an die Artikel im Internet, die sie über ihn gelesen hatte, an Isabels Foto in der Küche und wusste, dass sie ihm durch die gemeinsam empfundene Trauer immer verbunden geblieben war. »Ich wünschte …«, begann sie.
»Was?«
»Ich wünschte, wir könnten noch einmal von vorn anfangen. Ich wünschte, ich hätte umsichtiger gehandelt. Ich wünschte …«
»Du hast alles richtig gemacht. Ich war auf dem Holzweg.«
»Nein.«
»Doch. Du wolltest nur – Chloe kennenlernen.«
Ihre Hände ruhten auf seinem Gesicht, sie wartete, dass er weitersprach.
»Du wolltest deine Tochter kennenlernen. Sie ist ein wunderbares Mädchen, eine ungeheure
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