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Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Ihnen. Ehrlich.«
    Ich wisse gar nichts, erklärte ich ihm.
    »Ach, Mensch«, seufzte Schöngeist. »Na ja, nichts zu machen. Ehrlich gesagt, die Chefetage ist ohnehin nicht besonders wild darauf, dass die Ermittlungen weitergeführt werden. Es ist ja bloß eine Nutte in einem Hotel umgebracht worden, kein Vorfall von Belang. Denen ist das scheißegal. Die denken vermutlich sogar, wie praktisch, eine Nutte weniger. Die bekommen ja auch keine Leichen zu Gesicht. Die können sich überhaupt nicht vorstellen, was es heißt, wenn ein hübsches junges Mädchen nackt erdrosselt wird. Die wissen gar nicht, wie erbärmlich das ist. Und ich gehe jede Wette ein, dass in diesem Callgirl-Ring nicht nur die Polizei mit drinhängt. Da haben doch bestimmt auch einige Herrschaften aus der Politik die Finger im Spiel. Hin und wieder blitzen goldene Anstecknadeln im Dunkeln auf. Unsereins hat da ein Gespür für. Sobald etwas funkelt, zieht man den Kopf ein, wie eine Schildkröte. Besonders die da oben. Es sieht ganz danach aus, als würde uns der Mörder von May durch die Lappen gehen. Die Ärmste!«
    Die Bedienung räumte Schöngeists Kaffeetasse ab. Meine Tasse war noch halb voll.
    »Es ist merkwürdig, aber irgendwie fühle ich mich dem Mädchen nah«, fuhr Schöngeist fort. »Ich weiß selbst nicht, wieso, aber als ich das Mädchen da liegen sah, nackt und erwürgt im Hotelbett, überkam mich dieses Gefühl. Ich will den Täter unbedingt kriegen. Natürlich bekommen wir ständig Leichen zu Gesicht. Zerstückelte, verbrannte und so weiter. Man ist gegen derartige Anblicke schon regelrecht abgestumpft. Aber diese Leiche war etwas Besonderes. Auf seltsame Weise schön. Das Morgenlicht flutete ins Zimmer, und das Mädchen lag da, erstarrt. Die Augen aufgerissen, die Zunge verdreht, ein Strumpf um den Hals gebunden. Wie ein Schlips. Die Beine gespreizt, dazwischen eine Pisselache. Als ich sie so sah, überkam mich dieses Gefühl – sie erwartet von mir, dass ich den Mord aufkläre. Solange ich den Fall nicht löse, wird sie in dieser grotesken Haltung weiterhin steif im Morgenlicht liegen. Unerlöst erstarrt. Dort in diesem Raum. Um sie zu erlösen, muss ich also den Mord aufklären und den Täter fassen. Finden Sie das merkwürdig?«
    Keine Ahnung, erwiderte ich.
    »Sie waren im Urlaub, was? Schön braun geworden«, sagte der Inspektor.
    Ich sei beruflich auf Hawaii gewesen, erklärte ich.
    »Toll. Da kann man ja richtig neidisch werden. Solch einen schicken Job würde ich auch lieber machen, statt Tag für Tag nur Leichen zu sehen. Da wird man ganz depressiv. Haben Sie schon mal eine Leiche gesehen?«
    Ich verneinte.
    Er schüttelte den Kopf und schaute auf seine Uhr. »Ach du meine Güte, tut mir leid, dass ich Sie so lange aufgehalten habe. Aber man sagt ja, selbst eine flüchtige Begegnung ist vorherbestimmt. Fügen Sie sich in Ihr Schicksal. Ab und zu habe ich das Bedürfnis, auch mal mit jemandem ein privates Gespräch zu führen. Was haben Sie übrigens bei Tokyu Hands gekauft?«
    Einen Lötkolben, sagte ich.
    »Ach ja? Ich habe Abflussreiniger besorgt. Unser Waschbecken zu Hause ist verstopft.«
    Er bezahlte die Rechnung. Ich bot ihm an, meinen Kaffee selbst zu übernehmen, aber er bestand darauf.
    »Schon in Ordnung, Sie sind eingeladen. War doch nur ein Kaffee. Lassen Sie stecken.«
    Als wir aus dem Café traten, fiel mir plötzlich etwas ein. Ich fragte ihn, ob solche Prostituiertenmorde häufiger vorkämen.
    »Nun, das gibt’s schon relativ häufig.« Sein Blick verschärfte sich leicht. »Zwar nicht täglich, aber eine Seltenheit ist es nicht. Interessieren Sie sich für Prostituiertenmorde?«
    Nicht sonderlich, erwiderte ich. Reine Neugierde.
    Wir trennten uns.
    Als er weg war, verspürte ich ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend, das auch am nächsten Morgen noch anhielt.

36
    Der Mai verstrich, wie Wolken dahinziehen.
    Es waren zweieinhalb Monate vergangen, seitdem ich nicht mehr arbeitete. Auch die geschäftlichen Anrufe ließen nach. Die Außenwelt schien mich langsam, aber sicher zu vergessen. Dementsprechend kam natürlich auch kein Geld herein, aber ich hatte zum Glück noch genug auf dem Konto. Außerdem führe ich ein recht bescheidenes Leben. Ich koche, wasche meine Wäsche selbst und gebe auch sonst nicht viel aus für irgendwelchen Schnickschnack. Keine Kredite, keine Gelüste nach teuren Klamotten oder Autos. Ich brauchte mir also in finanzieller Hinsicht noch keine Sorgen zu machen. Ich

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