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Tarzan am Main

Tarzan am Main

Titel: Tarzan am Main Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Auswanderer, fahrend von einem anderen Leben träumen darf.

Ich wunderte mich gerade über die Angewohnheit vieler Stadtbewohner, ein Wägelchen hinter sich herzuziehen. Meistens ist es leer, genau wie die Rucksäcke, die andere Menschen mit sich herumtragen. Da fiel mir ein am Boden sitzender Bettler auf. Das heißt, ich nahm ihn nur kurz zur Kenntnis und betrachtete dann eine Zeitungsseite, die von einem Wind weggetragen wurde. Da sagte der Mann am Boden: Ehhh Genazino, kennst mich nicht mehr?! Ich erschrak, sank für Augenblicke unsichtbar in mich zusammen, zögerte, ob ich den Mann länger anschauen sollte oder nicht. Die Situation war unbehaglich, im Grunde wollte ich weiter, aber ich machte jetzt doch den Fehler, den Mann ein paar Sekunden lang anzuschauen. Er war ungefähr in meinem Alter, er sah verkommen aus, sein Oberkörper lehnte schräg gegen die Hauswand. Ich wollte jetzt doch schnell weg, da sagte der Mann: Ich bin Volker Hisserich, wir waren mal zusammen aufm Gymnasium. Einen ehemaligen Mitschüler erkannte ich in ihm nicht, aber an den Namen erinnerte ich mich. Ich ging jetzt doch zwei Schritte auf ihn zu, blieb stehen, dann sagte er: Du warst gut in Erdkunde und Biologie. Das stimmte. Ich war versucht, kurz zu lachen, traute mich aber nicht. Als ich noch näher an ihn herankam, merkte ich, dass er stark roch. Es war der Geruch vieler Abstürzler: Alkohol, Urin, Schweiß. Du erinnerst dich nicht, stimmts? sagte er. Nur an deinen Namen, sagte ich. An den Namen! wiederholte er. Immerhin! Ich ließ mich ungern an meine Schulzeit erinnern, die für mich nicht besonders ehrenvoll war. Aber Hisserich sagte: Ich komme nicht mehr auf die Beine. Woran bist du verunglückt? Erst Scheidung, dann Alkohol, dann Schulden, dann keine Wohnung mehr.
    Der übliche Aufmarsch der Klischees. Jetzt war ich doch misstrauisch geworden. Wahrscheinlich war alles viel einfacher. Schulden, fragte ich, wegen der Scheidung? Nee, sagte er, ich kaufe mir Sachen, die ich nicht bezahlen kann. Er lachte. Was zum Beispiel? fragte ich. Eine Eigentumswohnung, sagte er. Ich war jetzt sicher, dass er mich anschwindelte. Der übliche Lügenzwang eines Alkoholikers. Wer will schon ein Alkoholiker sein und sonst nichts? Ich fasste in meine Jackentasche und gab ihm fünf Euro. Er nahm den Schein ohne Reaktion. Wenn ich mich nicht täuschte, fühlte er sich abgespeist. Du siehst gut aus, sagte er, du verdienst gut, stimmts? Meine Verstimmung nahm zu. Ein Alkoholiker, der so tut, als hätte er sich zum Zeitvertreib mal kurz auf die Straße gelegt. Da kam eine ehemalige Kollegin aus der Leipziger Straße und blieb in einiger Entfernung stehen. Wilhelm, rief sie halblaut, und ich war dankbar dafür. Ich sagte: Ich muss weiter. Klar, sagte er, so warst du immer, du musst weiter. Am liebsten hätte ich ihm den Fünf-Euro-Schein wieder aus der Hand genommen. Natürlich konnte ich mich zurückhalten.

Vermutlich kennt jeder das Moment der plötzlichen inneren Überforderung durch die Stadt, die gleichzeitig Lust macht. Wir befinden uns in einer Art Straßenrausch, das heißt, wir wissen nicht genau, was mit uns los ist. Das Wort Straßenrausch stammt von Siegfried Kracauer. Auch er hat offengelassen, was genau er mit dem Wort meinte. Es steckt darin (wie in jedem Rausch) der Augenblick der Abstoßung und der Augenblick der Anziehung. Eine Weile ist es unterhaltsam, sich in den überfüllten Straßen zu bewegen. Es macht Vergnügen, den entsetzlichen Straßenmusikern zuzuhören. Zum Beispiel einem älteren Mann mit einer riesigen Trommel vor dem Bauch, einer Klarinette in den Händen und einem Blechring an den Füßen. Wie soll man nur das Geräusch nennen, das der Mann hervorbringt? Es ist eine Kakophonie, ein schwer zu fassendes Scheppern, an dem allenfalls Kinder Spaß haben. Ich empfand den Mann aus einem anderen Grund als interessant. Er erinnerte mich an ähnliche Männer in der Nachkriegszeit, die mit Drehorgeln in den Hinterhöfen unterwegs waren. Ihre Musik war bedrückend und jammervoll. Die Drehorgeln waren eigentlich kaputt und hätten nicht mehr verwendet werden dürfen. Aber es gab außer der Kriegsnot auch noch die Nachkriegsnot. Oft fehlte den Drehorgelmännern ein Arm oder ein Bein. Oder es war ein Teil ihres Kiefers weggerissen oder ein Ohr. Dafür hatten sie ein Äffchen auf ihrer Drehorgel sitzen, das sich permanent selbst lauste. Es war an einer sehr kurzen Leine angebunden. Das Tier konnte die Drehorgel nicht verlassen. Nach

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