Tarzan am Main
aus der Reihe »Rowohlts Bildmonografien«, das ich mir in meiner frühen Begeisterung für den Schriftstellerberuf einmal gekauft hatte. Es ist der Band über Thomas Wolfe, erschienen 1962. Das Cover zeigt den Schriftsteller mit dem Manuskript von »Of Time and the River«. Das Manuskript besteht aus einer kniehohen Aufschichtung loser Blätter. Vor dem Manuskriptberg steht eine geöffnete Holzkiste, die bis obenhin ebenfalls mit Manuskriptteilen aus »Of Time and the River« gefüllt ist. Dieses so hoffnungslose wie leidenschaftliche Bild hinderte mich immer mal wieder, meine eigenen Manuskripte und Aufzeichnungen wegzuwerfen. Der Grund für die immer wieder auftauchende Lust auf Vernichtung ist vermutlich die Scham. Die Scham vor dem Einblick anderer Menschen in das werdende Schreiben. Nach ein paar Tagen kommt ein Lieferwagen aus Marbach und holt meinen kompletten Vorlass ab. Noch ein paar Tage später schickt mir das Archiv einen Übereignungsvertrag.
Frühmorgens, zwischen sechs und sieben, lege ich ein verzittertes, ausdrucksstarkes Stück auf, sagen wir: die »Lyrische Suite« von Alban Berg, und warte, was passiert. Ich sitze am Schreibtisch und suche nach Wörtern. Nein, ich suche eigentlich nicht, ich warte und lausche. Diese Bedürftigkeit löst jeden Übermut auf. Ich schaue umher und erwarte Anstöße. Deswegen sehe ich auch auf die Straße hinunter, die um diese Zeit noch unbelebt ist. Das heißt, ganz unbelebt ist sie nicht. Zum Beispiel ist die Zeitungsausträgerin unterwegs. Sie zieht einen immer noch stabilen Kinderwagen aus den siebziger oder achtziger Jahren hinter sich her. Er ist bis zum Rand mit frischen Zeitungen gefüllt. Die Räder des Kinderwagens bringen ein wimmerndes Quietschen hervor, das auf wunderliche Weise in die Suite von Berg eindringt. Zuweilen fällt der Schlüsselbund der Zeitungsausträgerin zu Boden. Obwohl die Frau dick ist, bückt sie sich leicht. Dann öffnet sie eine Flasche Bier. Sie trinkt gern frühmorgens im Halbdunkel und schaut dabei schweifend die Hauswände entlang. Die Vermischung der Details ist anregend. Ich merke, die Bilder sprechen in mich hinein und bereiten den Beginn der Arbeit vor. In der Frühe habe ich eine mehr sozial, am Abend eine eher poetisch gestimmte Aufmerksamkeit. Das Spiel der Eindrücke entscheidet oft über den ersten Satz. Plötzlich ist es passiert. Die Musik von Berg und das Quietschen auf der Straße schlagen ein Thema an. Der Augenblick der Arbeit ist der Augenblick des Glücks. Und der Augenblick des Glücks ist der Augenblick der Verwandlung: Ich werde derjenige, der in Kürze schreiben wird. Entscheidend ist oft die Gleichzeitigkeit von anregenden und lächerlichen Einzelheiten. Nur in der Literatur fällt Wissen von größter Bedeutsamkeit mit Wissen von größter Nichtigkeit in eins zusammen. Der künstlerische Akt folgt der Ästhetik eines Tricktheaters, das seinen Spielplan nicht veröffentlicht. Obgleich immer wieder das gleiche Stück gespielt wird: Wie ein Text seiner Verlockbarkeit in den Ausdruck folgt.
Vermutlich ist der Schreibende das Gefäß einer Reizung, für die er sich immer besser präparieren lernt. Aus diesem Grund ist es irreführend, sich Literatur nur aus Sprache bestehend vorzustellen. Ohne die dauernde Wechselbelebung zwischen äußeren Bildern, ihrem verzögerten inneren Echo und deren Drang nach Gestaltung würde niemand schreiben wollen. Deshalb gehört die biertrinkende Zeitungsausträgerin in meinen Text, obwohl sie in diesem nicht erscheinen wird. Aber auch das ist noch nicht sicher. Die Frau ist für etwa eine halbe Stunde hinter einer Mauer verschwunden. In dieser Zeit wird es taghell. Die Suite von Berg ist zu Ende. Es wird nicht lange dauern, dann werden Schwalben durch die Straßen flirren. Ihr Sirr-sirr-sirr klingt begütigend, wie nur ein Klang begütigend klingen kann. Auf der Straße hält ein Auto, ein junger Mann steigt aus. Es ist vermutlich der Sohn der Zeitungsausträgerin, der hier auf seine Mutter wartet. Ich habe noch nicht angefangen zu arbeiten. Die Zeitungsausträgerin kommt rechts hinter einem Mietshaus hervor. Der Kinderwagen ist jetzt fast leer. Der junge Mann hebt den Kinderwagen in das Auto. Die Frau leert die Bierflasche und schaut auf den Boden. Zurück bleibt das Zittern der Suite und das Quietschen des Kinderwagens, mit dem ich anfangen werde, wenn ich anfangen kann. Allerdings ist der Lärm auf der Straße schon fast zu stark. Diese Betriebsamkeit passt nicht zu meiner
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