Tarzan am Main
ausgezahlt. Aber auch Rentner, die ihre Rente schon abgeholt hatten, waren immer noch oder schon wieder da. Die Schalterhallen waren mollig warm, und außerdem war es damals noch nicht üblich, in Cafés unnötig Geld auszugeben. Bis zu ihrer Privatisierung hatte die Post eine Tendenz zur Gemeinnützigkeit. Junge Frauen machten hier ihre Säuglinge frisch oder stillten sie. Die Rentnerinnen verzehrten mitgebrachte Brote, die alten Herren sahen wieder mal nach, ob in ihren Brieftaschen noch alles in Ordnung war. Viele dieser Brieftaschen hatten die Kriegsjahre überlebt und mussten, damit sie nicht auseinanderfielen, mit einer Gummiflitsche zusammengehalten werden. Die Beamten (man sagte damals: die Beamten) sahen dem Treiben geduldig zu. Wobei nicht immer klar wurde, wer wen beobachtete. Ich glaube, die beiden Großgruppen (Rentner und Beamte) fanden sich gegenseitig sehenswert. Auch die Beamten packten dann und wann ein belegtes Brot aus. Viele kauten still vor sich hin, wenn sie Briefe abstempelten oder den Quittungsabschnitt einer Postanweisung abschnitten. Von diesem beeindruckenden Gemeinschaftsleben ist heute nichts mehr übrig. Die großen Posthallen sind verschwunden beziehungsweise verkauft, vermietet, abgerissen. Das Postpersonal wurde stark reduziert, die Räumlichkeiten ebenso stark verkleinert. Ihren Postschalter finden die Postkunden heute in kleinen Ecken von Kaufhäusern oder in den Rezeptionen großer Hotels. Die Post ist Untermieter geworden. Man kann nicht sagen, dass die Post ihre Aufgaben vernachlässigt, es geht alles seinen Gang wie früher. Nur: Beeindruckt ist von dieser Post niemand mehr. Es ist auch niemand freiwillig hier. Man liefert rasch sein Einschreiben ab und ist froh, wenn man die kleine verdrückte Kaufhauspost wieder verlassen darf.
Menschen, die ohne Zubehör unterwegs sind , kann man sich heute kaum noch vorstellen. In früheren Jahren war ein Schirm oder ein Spazierstock das Äußerste, was eine Einzelperson mit sich führte. Heute hat sich das Angebot von Begleitgeräten erheblich erweitert. Zwischen den Hochhäusern der Banken und Versicherungen sieht man junge Angestellte, die auf Rollern zwischen den Bürotürmen verkehren. Andere sind zwar zu Fuß, aber sie mögen ihre Wege nicht ohne Radio, ohne Computer oder ohne iPad zurücklegen. Wieder andere haben sich Kopfhörer über das Haupt gespannt, weil sie ohne Musikanreicherung nicht mehr leben mögen. Es sei denn, in der Hosentasche macht der schrille Ton ihres Handys auf sich aufmerksam. Ganz zu schweigen von den Rucksackträgern. Wer ferne Berge erklettert oder dunkle Wälder durchquert, hat für einen Rucksack natürlich gute Gründe. Aber warum laufen so viele Menschen mit prall gefüllten Rucksäcken durch die Großstädte? Noch viel sonderbarer sind Menschen mit leeren Rucksäcken. Platt wie Pfannkuchen liegen die unteren Enden der Rucksäcke auf dem Po ihrer Träger auf. Es gehört eine gewisse Peinlichkeitsresistenz dazu, die Schrägheit der eigenen Erscheinung zu ignorieren. Es gibt sogar Menschen, die mit zwei prall gefüllten Rucksäcken auf Tour sind. Ein Rucksack hängt über dem Bauch, der andere auf dem Rücken. Man weiß längst: Alles kann zur Sucht werden, sogar der Rucksack. Umso dringlicher frage ich mich: Was tragen diese Menschen immerzu mit sich herum? Vor kurzem hat mir ein Zufall weitergeholfen. In einem Supermarkt sah ich einen kleinen, etwas aufgeschwemmten Mann mit zwei Rucksäcken. Er ging schnurstracks zur Leergut-Annahme, stellte dort beide Rucksäcke auf den Boden und räumte sie Stück für Stück aus. Es handelte sich um leere Bierflaschen. Die Rucksäcke waren so fest gepackt, dass während des Tragens nicht einmal das Klackern der Flaschen zu hören war. Hier tarnte sich ein empfindsamer Alkoholiker als Wanderer. Es gab keinen Zweifel: Der Mann hatte das typisch trübe, graugrüne Gesicht eines Dauertrinkers, der das ordentliche Leben eines Süchtigen führte. Er packte fünfzehn neue, das heißt volle Flaschen Bier (vermutlich konnte er mehr auf einmal nicht tragen) in seinen Rucksack. Er zahlte an der Kasse (er kaufte, ohne seinen Einkauf zeigen zu müssen), verließ unauffällig den Supermarkt, fast geräuschlos, weil er auch jetzt verhindern wollte, dass die vollen Flaschen gegeneinanderstießen.
Die Frau, von der ich hier erzähle , geht auf die siebzig zu, genau wie ich. Vor ungefähr vierzig Jahren, als ich nach Frankfurt kam, war sie – für damalige Verhältnisse –
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