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Tarzan am Main

Tarzan am Main

Titel: Tarzan am Main Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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einiger Zeit öffneten sich die Fenster und die Balkontüren, und es zeigten sich Ehefrauen und Mütter. Die Kinder konnten vom Hof aus dabei zusehen, wie die Mütter zwei Groschen in Zeitungspapier wickelten und das kleine Päckchen in den Hof hinunterwarfen. Mehr als einmal sah ich dabei meine eigene, nicht spendable Mutter. Wir hatten selbst viel zu wenig Geld, aber meine Mutter wollte einmal in der Woche als huldreicher Engel erscheinen. Den grössten Eindruck machte sie auf mich. Selbst am Abend, wenn sie wieder die graue Nachkriegsfrau war, konnte ich noch die Engelsaugenblicke imaginieren. Die Leute hier sind nicht im Straßenrausch, allenfalls im Kaufrausch. Die meisten haben strenge, ein wenig angestrengte Gesichter, der Tumult des Konsums peinigt die Züge. Nicht weit von hier, hinter der Peterskirche, gibt es einen kleinen Friedhof. Es dauert nicht einmal zehn Minuten, dann sitze ich zwischen vielen Gräbern auf einer verkommenen Holzbank. Außer mir sind nur zwei Frauen unterwegs. Der Vorteil eines Friedhofs ist: Es gibt hier keinen Würstchenstand, keinen Ballonverkäufer, keinen Marktschreier, keinen Mann mit Trommel und Klarinette. Nur die beiden ältlichen Engel mit Gieskannen und kleinen Rechen.

Muss eine Fussgänger-Unterführung wirklich so aussehen wie ein Mittelding zwischen einer Umkleide-Kabine und einer schon etwas älteren Gaskammer? Und wen kann man ansprechen auf die Schlichtform unserer Tankstellen? Und weil wir schon einmal dabei sind: Fühlt sich jemand verantwortlich für die lausige Form von Camping-Wagen, Armbanduhren, Friseur-Salons und Autobahn-Zubringern? Und wie lange müssen wir noch den Anblick von Pudeln, Bulldoggen und Wellensittichen ertragen? Gibt es nicht irgendeine barmherzige Bürgerinitiative, die die Tiere still und heimlich einfängt und sie in weit entfernten Reservaten wieder aussetzt? Zum Schluss das delikateste Anliegen: Unsere Polizistinnen. Fast immer, wenn ich eine von ihnen sehe, möchte ich beinahe um Hilfe schreien. Das Blondhaar, das rechts und links unter der Kappe hervorquillt! Die schönen kleinen Frauenfüße, die in klobigen Stiefeln verschwinden! Und erst der Hintern und die Schenkel, die in viel zu engen Uniformhosen stecken, und zwar Tag für Tag! Findet das niemand zum Erbarmen? Natürlich gelten diese Seufzer auch ihren männlichen Kollegen. Aber Männer haben sozusagen von altersher das größere Recht auf ein unmögliches Outfit; bei vielen von ihnen ist die Geschmacklosigkeit derart zur natürlichen Form geronnen, dass sie uns schon lange nicht mehr auffällt. Aber seit nicht wenige Frauen damit anfangen, männliche Schlichtheit nachzuahmen, kann man nur noch auf das Einschreiten von Engeln hoffen.
    Aber solche Engel gibt es nicht, ich weiß. Das bedeutet, wir müssen weiterleben mit den Anblicken von Friseur-Salons, Tankstellen, Pudeln, Polizistinnen. Unser Alltag ist – ich schätze mal – bis zu 70 Prozent fast geschmacklos, und an vier von fünf Tagen wünsch’ ich mir, dass es so bleibt. Und hoffentlich ist niemand auf mein Theater hereingefallen! Denn natürlich mag ich Tankstellen, die die Ödnis besser ausdrücken als jedes Kunstwerk, und natürlich schätze ich Fußgänger-Unterführungen, schon weil sie von keiner Frohsinns-Kampagne bedroht werden können. Und wie bewundere ich unsere Polizistinnen! Besonders eindrucksvoll sehen sie aus, wenn sie links den Gummiknüppel und rechts die Handschellen am Gürtel hängen haben und trotzdem – jetzt wieder, im Sommer – ein Eis lecken. Wenn sie mit dem Eis fertig sind, ziehen sie sich ihre Uniform glatt – und sehen im Handumdrehen wieder staatstragend aus. Nein, eben nicht! Sie gehen dahin wie leibhaftig gewordene Widersprüche ihrer selbst, eingefangen in die Zeichen ihrer Weiblichkeit, die mal hervorblitzen dürfen und mal wieder nicht.

Als die Post noch Deutsche Bundespost hieß und keine Gewinne machen musste, gab es in den Stadtteilen schöne, große und – im Winter – auch geheizte Schalterhallen. In diesen Hallen standen mehrere Sitzbänke und kleine Tische, manchmal auch Stehschreibtische, wenn jemand (mit der Hand) eine Postanweisung oder eine Zahlkarte ausfüllen musste. Hier trafen sich viele Rentner, deren Wohnung ungemütlich oder zu kalt war, auch viele junge Mütter mit Kind und Kinderwagen und mancher Arbeitslose, von denen es damals erst wenige gab. Die meisten Rentner hatten noch kein eigenes Konto; die Renten wurden noch persönlich von Postbeamten am Schalter

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