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Tarzan am Main

Tarzan am Main

Titel: Tarzan am Main Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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vergleichsweise lange meine Geliebte. Natürlich verwendete damals niemand das Wort »Geliebte«. Aber jetzt, nach so langer Zeit, ist das Wort passend geworden, weil ein gewisser Respekt mitklingt, vielleicht auch Dankbarkeit. Die Frau war ein »Typ«, auch ich war ein »Typ«, viel mehr musste man damals nicht wissen. Alle »Typen« lebten in Wohngemeinschaften, man studierte oder studierte nicht mehr, man hatte einen Job oder lebte immer noch von den Eltern, weil viele »Typen« zu Hause nicht sagten, dass sie gar nicht mehr studierten. Meine Freundin fand es aufregend, dass ich Schriftsteller war, obgleich sie mir auch misstraute. Zuweilen dachte sie, dass ich einfach ein Angeber war oder mich bloß interessant machen wollte. Dann zeigte ich ihr einen Text, der in einer Literaturzeitschrift veröffentlicht worden war. Ihr Misstrauen verflog, mein Ansehen wuchs. Allerdings wurde die Geliebte bald von einer anderen Angst heimgesucht. Jetzt glaubte sie, dass ich unser Liebesleben heimlich als Vorlage für mein Schreiben ausbeutete – wie es berühmte Schriftsteller machen; das hatte sie jedenfalls in einer Illustrierten gelesen. Ich lachte und leugnete, aber sie glaubte mir nicht. Sie wollte alle meine Texte unter diesem Gesichtspunkt vorab lesen. Ich war empört und wies die Kontrolle zurück. Und weil sie von der Wahrheit ihres Misstrauens überzeugt war, kam es an diesem Punkt – nach einigen Liebesjahren – zum Bruch.
    Jetzt ist sie eine Greisin, sieht immer noch attraktiv aus und hat, was unser einstiges Privatleben betrifft, eine hundertprozentige Kehrtwende hinter sich. Sie ist jetzt sehr dafür, dass ich mich, mit dem sicheren Abstand der Jahre, über unsere früheren Erotika schriftlich verbreite. Genau das stellt sie sich heute als amüsant vor. Jedesmal, wenn ich sie treffe, fragt sie mich: Hast du schon angefangen? Und lacht frech.
    Noch nicht, antworte ich.
    Worauf wartest du?
    Ich warte überhaupt nicht, sage ich, die Beschreibung einer lebenden Person, mit der ich intim war, ist schwierig und braucht Zeit.
    Wieso, fragt sie, du hast doch alles, was zwischen uns passiert ist, genausogut im Kopf wie ich.
    Trotzdem muss ich überlegen, was ich davon verwenden will und was nicht, antworte ich, einmal abgesehen von grundsätzlichen Fragen.
    Grundsätzliche Fragen? Was denn?
    Es gibt mindestens vier zentrale Probleme, sage ich. Das erste ist: Soll der Text wahr sein? Das zweite ist: Soll der Text neuartig sein? Das dritte ist: Soll der Text die beschriebene Person beeindrucken oder die Leser? Und das vierte ist: Soll der Text etwas von der beschriebenen Person vor dem Vergessen bewahren? Jetzt fällt mir noch ein fünftes Problem ein: Darf der Text die beschriebene Person befremden? Und noch etwas: Ist die beschriebene Person mit der Fremdheit ihres Geschlechts überhaupt vertraut? Ich weiß nicht mehr, welcher Theoretiker darauf hingewiesen hat, dass keine Frau ihr Geschlecht direkt sehen kann. Sie müssen einen Spiegel zu Hilfe nehmen. In diesem konstruierten Spiegelblick liegt nach Meinung des Theoretikers, dessen Namen mir immer noch nicht einfällt, der Grund für die weibliche Hysterie.
    Ach Gott, seufzte sie.
    Schon durch diesen Seufzer wurde mir die Frau wieder sehr sympathisch.
    Möchtest du über die Fragen nachdenken? fragte ich.
    Sie schwieg eine Weile und schaute dabei in das Innere eines geparkten Autos.
    Rufst du mich an, falls du antworten willst?
    Ich möchte lieber nicht, sagte sie.
    Ich lachte und staunte und rieb mir die Augen. Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ein lebender Mensch diesen Literatursatz jemals aussprechen könnte. Ich traute mich nicht zu fragen, ob sie die Geschichte von Bartleby kannte oder nicht. In unserer schönen Antwortlosigkeit glitten wir langsam auseinander.

Eines Nachts verließ ich sehr spät eine Party und steuerte die nächste U-Bahn-Haltestelle an. In der Hauptwache verfehlte ich die Bahn nur knapp, so dass ich zehn Minuten auf die nächste warten musste. Eine Weile saß ich ganz allein in der überhell erleuchteten Station, dann sah ich erst zwei, dann drei Mäuse in bemerkenswerter Ruhe umherlaufen. Es waren große, prächtige, gutgenährte Tiere. Sie waren aus einem schmalen Spalt in der Kachelverschalung der hinteren Wand herausgekrochen. Sie suchten offenkundig nach Nahrung; immer mal wieder blieben sie stehen und hoben die Schnauze witternd in den Schachtwind, ob von irgendwoher eine Gefahr drohte. Mich fanden sie nicht beunruhigend, wenn

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