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Tarzan am Main

Tarzan am Main

Titel: Tarzan am Main Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Verhältnisse beschuldigen könnte. Als Ausweg diente ihm die Beschuldigung seiner Frau. Sie könne nicht mit Geld umgehen, behauptete er. Das war die allerkleinlichste Lösung. Ich wunderte mich oft, dass meine Mutter kein einziges Mal auf den Gedanken kam, ihm zu antworten: Niemand kann mit zu wenig Geld umgehen. Ich betrachtete das schöngeistige Treiben der sozialistischen Studenten und wusste genau, dass sie vom Leben der Nachkriegsarbeiter so wenig Ahnung hatten wie von den Indianern oder den Eskimos. Der Vater folgte den Parolen der damals tonangebenden Parteien: Bitte keinen Klassenkampf, sondern Aufbau und Konsum. Auch Arbeiterhaushalte sollten einen Kühlschrank, einen Fernsehapparat, eine passable Wohnung und einen bezahlbaren Urlaub erhalten. Es lag im Interesse der Nachkriegsparteien, dass sich die Klassen vermischten. Es sollte mehr und mehr altmodisch klingen, überhaupt von Klassen zu sprechen. Das Wort Klasse erinnerte an die unselige Weimarer Republik, und mit dieser Schmuddelrepublik wollte niemand mehr etwas zu tun haben.
    Ich weiß heute nicht mehr genau, warum ich, trotz meiner Intimkenntnisse, keinen Arbeiterroman schreiben wollte. Vermutlich war es nur das Verlangen nach Originalität. Ich wollte meine Brötchen nicht auch noch als Unterklassenkenner verdienen. Ebenso unklar ist mir, warum ich mir als Romanobjekt ein erheblich geheimnisvolleres Wesen vornahm: den modernen Angestellten. Für den Angestellten interessierte sich damals niemand. Ich wusste, dass schon im letzten Drittel des abgelaufenen Jahrhunderts der Anteil der Arbeiter an der Erwerbsbevölkerung deutlich gesunken war, die Angestellten hatten im gleichen Zeitraum ihren Anteil fast verdoppelt. Am Ende des vorigen Jahrhunderts würde es erstmals in der deutschen Geschichte mehr Angestellte als Arbeiter geben. Diese Entwicklung vollzog sich nicht geheim; sie ereignete sich vor aller Augen. Die Gewerkschaften richteten ihre Kundgebungen zum 1. Mai nach wie vor an die zur Minderheit gewordenen Arbeiter. Die Arbeiter hatten noch immer den großen Vorteil, dass sie weithin leicht identifizierbar waren. Man brauchte sich nur ihre »abgeschafften Hände« (eine Formulierung meines Vaters) und ihre zerschundenen Körper anzuschauen, dann war jedem klar, zu welcher »Schicht« (das war das Ersatzwort für »Klasse«) sie gehörten. Anders als der Arbeiter, der ab einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens an keine qualitative Verbesserung seiner Zukunft mehr glaubt, sieht der zur Selbstverblendung immer aufgelegte Angestellte sein ganzes Berufsleben lang die Möglichkeit zu einer Wende oder zu einem plötzlichen Aufstieg, und sei es nur durch eine überraschende Personalkonstellation in der Firma. Angestellte bewerben sich ihr Leben lang, Arbeiter nicht. Der Arbeiter leistet sich, weil ihm nichts anderes möglich ist, die Melancholie einer endlichen Bestimmung. Irgendwann hat die Trauer sein Innenleben vollständig erobert, dann hört er auf, etwas anderes zu wollen: Er ist und bleibt Arbeiter. Der Angestellte dagegen spekuliert, spintisiert und illusioniert; er lebt öfter in Möglichkeiten als in Realitäten. Der Arbeiter, wenn er jenseits der Resignationsschwelle auf seine Zukunft angesprochen wird, schweigt oder kommt ins Stottern. Der Angestellte aber spricht plausibel und gekonnt von einer Zukunft, in der auch er eine Rolle spielt. Der Angestellte billigt sich, mit einem Wort, keine gesellschaftliche Melancholie zu. Und gerade deshalb, weil er sich persönliche Trauer (über den trotz seiner Anstrengungen ausbleibenden Aufstieg) nicht erlaubt, wird er später oft und besonders hart von ihr getroffen.
    Diese Skizze gerät mir deswegen so ausführlich, weil sich in ihr ein autobiographisches Parallelogramm verbirgt; die Figur des Arbeiters war mein Vater, die Figur des Angestellten war ich. Wie in jedem Parallelogramm verschieben und bewegen sich die Kräfte. Wie oft, zum Beispiel auf Familienfesten, schwärmte mein Vater malerisch von seinem Aufstieg! Und meine Mutter hörte ihm aufmerksam zu! Es war die stärkste Sehnsucht des Vaters, so bald wie möglich den Status eines Angestellten zu erreichen, was ihm im letzten Viertel seines Arbeitslebens auch gelungen ist. Selbst ich, obwohl ich als Redakteur ein »gesicherter« Angestellter war, fühlte lange ein Unbehagen in dieser Rolle – besonders in einer Stadt wie Frankfurt, die man als spezifische Angestelltenstadt bezeichnen kann. Wer sich überwiegend unter seinesgleichen bewegt,

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