Tarzan am Main
Nachkriegszeit. Die reizarmen Wohnhäuser wurden in den fünfziger Jahren ohne besondere Ambition einfach der Straße entlanggebaut, ohne Ambition deshalb, weil neue Wohnungen dringend gebraucht wurden und zuvor niemand so recht einschätzen konnte, ob die total zerstörte Stadt überhaupt noch einmal auferstehen würde oder nicht. Genau dieser Punkt ist bis heute ein Problem, jedenfalls in den Augen zahlreicher Bürger, die lieber in einer eindeutigen Metropole leben würden. Man kann den Spieß auch umdrehen – und behaupten: Nicht die Stadt ist provinzlerisch, sondern eine große Zahl ihrer Bewohner. Viele kommen aus sogenannten kleinen Verhältnissen, viele sind ehemalige Pendler aus dem weiteren Umland, die irgendwann (nicht zuletzt aus Kostengründen) nach Frankfurt übersiedelt sind. Aus dem ansässig gewordenen Pendler wird nicht selten ein engagierter Liebhaber der Stadt. Er ist dankbar, dass ihn die Stadt von seinem ländlichen Schatten befreit hat, ohne diese Ambivalenz jemals völlig beseitigen zu können – trotz des Bankenviertels und trotz der Verbrecherlokale. Ein Beispiel für sonderbare Diskontinuitäten im Erscheinungsbild der Stadt ist die Fortsetzung der Zeil jenseits der Konstabler Wache. An dieser Stelle, jenseits der Friedberger Landstraße, ändert die Zeil ihr Bild. Der Sog der wuseligen Einkaufsstadt ist wie weggeblasen, und stattdessen treffen wir ein eigenartig verrumpeltes Stadtgebilde an, das man vielleicht in Oldenburg oder Gütersloh vermuten würde, aber nicht hier. Wir sehen ein paar verlassen herumstehende Altbauten, dazwischen den Flachbau der Stadtbibliothek, ein paar Imbissbuden, Billigkaufhäuser, gelegentlich eine Prostituierte aus der nahen Allerheiligenstraße, einen sogenannten Teppichbasar. Nein, großstädtisch ist das nicht; es ist widersprüchlich, abschreckend, lebendig, bunt.
Ich war zehn Jahre alt , als ich zu glauben begann, dass in Kürze ein Krieg ausbrechen würde. Deswegen wollte ich, dass meine Eltern mir von den Kriegen erzählten, die sie selbst erlebt hatten. Von einem kommenden neuen Krieg wussten sie nichts. Kind, was dir alles im Kopf herumgeht, sagte meine Mutter. Vater schüttelte den Kopf und winkte ab. Dann, plötzlich, gab es in der DDR einen Volksaufstand. Wir lebten im Westen und schauten uns die Bilder im Fernsehen an. Zum ersten Mal sah ich fahrende Panzer in einer Stadt und Männer, die Steine von der Straße aufhoben und gegen die Panzer warfen. Hier! rief ich meinen Eltern entgegen, der Krieg ist nah! Erzählt mir alles, was ihr von dem Krieg wisst! Jetzt lachten meine Eltern gemeinsam und schickten mich ins Bett.
Ich schnitzte mir einen Stock und nahm ihn mit in die Schule. Der Lehrer war vernünftig und sah ein, dass ich mich für den kommenden Krieg mit einer Waffe ausrüsten musste. Er verlangte nur, dass ich mich während des Unterrichts von meinem Stock trennte. Ich stellte ihn in einer Ecke ab, so dass ich ihn bei einem Angriff sofort zur Hand haben würde. Ich war mit mir übereingekommen, dass ich den kommenden Krieg nicht mitmachen wollte. Ich war zur Flucht entschlossen. Ich wollte Deutschland über Frankreich verlassen und von Marseille auf einem Frachter nach Südamerika fliehen. Neuerdings musste ich in der Schule Englisch und Französisch lernen. Ich saß ruhig in meiner Bank und weigerte mich, mich für Fremdsprachen zu interessieren, die ich im Dschungel nicht brauchen konnte. Der Religionslehrer wollte, dass wir Kinder schöne Lieder sangen. Ich verstand die Lieder nicht, aber ich sang mit. Ein Lied hieß »Wem Gott will rechte Gunst erweisen …« Warum sollten wir Gott eine Gunst erweisen, was war überhaupt eine Gunst, und wie erwies man sie einem Gott? Ich fragte auch den Religionslehrer nach dem kommenden Krieg, er schüttelte den Kopf wie Vater und hob den Taktstock zum Weitersingen.
Fast täglich las ich Tarzanhefte, die mir mein Freund Günter auslieh. Günter war bereit, mit mir zu fliehen. Das Beste an Tarzan war, dass er sich an langen Lianen von Baum zu Baum schwang. Das wollte ich im Dschungel genauso machen. Wir würden uns eine Baumhütte bauen, dort würden wir den Krieg überleben. Am Ende des Unterrichts nahm ich meinen Schulranzen und meinen Stock und ging nach Hause zu meinen ahnungslosen Eltern. Das heißt, ich machte ein paar Umwege, um mir zerstörte Häuser anzuschauen, die vom vorigen Krieg übriggeblieben waren. Diese fast ganz kaputten Häuser gefielen mir. Von einem war nur die vordere Mauer
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