Tatjana
er besessen ist? Wer außer einem Freund kann ihm das sagen? Noch genauer, wie können zwei Männer eine Stadt abdecken, ganz zu schweigen von zwei Städten, Hunderte Kilometer voneinander entfernt? Er würde ein Dutzend Kriminalbeamte und Polizeihunde brauchen, und nichts davon würde der Staatsanwalt genehmigen. Surin würde sich höchstens für so etwas wie die Reise nach Jerusalem im Leichenschauhaus einsetzen. Inzwischen würde Tatjana, wenn sie von Schublade zu Schublade verlegt worden war, hellblau sein und von einer Eiskristallschicht bedeckt. Vielleicht wartete die Person, die sie versteckte, auf die erste Schneedecke, um Tatjana angemessen zur Ruhe zu betten, wenn die Wut verraucht und sie nur noch eine Heilige unter vielen war. Seltsam war nur, dass Arkadi sich darauf freute, die anderen Kassetten anzuhören, nicht weil Tatjanas Stimme besonders melodiös, sondern weil sie klar war, und nicht weil die von ihr beschriebenen Ereignisse dramatisch waren, sondern weil sie ihre Rolle dabei herunterspielte. Und weil er beim Anhören der Kassetten das Gefühl bekam, sie zu kennen und ihr schon begegnet zu sein. War das besessen?
11
Der Mond zieht über den Himmel wie ein Nachen,
Lässt Ruder schwer durchs Wasser gleiten
Russland wird ewig so weitermachen
Tanzen und weinen zu allen Zeiten.
A lso verändert sich nichts«, sagte Tatjana. »Der Dichter Jessenin wusste das schon vor hundert Jahren. Russland ist ein betrunkener Bär, mal unterhaltsam, mal eine Bedrohung, oft ein Genie, doch wenn die Nacht anbricht, rollt sich immer ein betrunkener Bär in einer Ecke zusammen. Manchmal liegt in der anderen Ecke ein Journalist, dessen Arme und Hände systematisch gebrochen wurden. Die Schläger, die diese Arbeiten verrichten, gehen sorgfältig vor. Wir brauchen nicht nach Tschetschenien zu fahren, um solche Männer zu finden. Wir rekrutieren sie, bilden sie aus und nennen sie Patrioten. Und wenn sie einen aufrechten Journalisten finden, lassen sie den Bär los.
Ist es das wert? Das Problem mit dem Märtyrertod ist das Warten. Früher oder später werde ich vergiftet, von einer Felswand gestoßen oder von einem Fremden erschossen, doch zuvor werde ich noch einen Torpedo unter der Wasserlinie abschießen, sozusagen.
Außerdem, warum ist es im Himmel so langweilig? Im Himmel gibt es Liebe, aber gibt es auch Leidenschaft? Müssen wir wirklich barfuß laufen und diese Gewänder tragen? Sind uns auch High Heels erlaubt? Ich habe Frauen in High Heels immer beneidet. Meine ersten tausend Jahre im Himmel möchte ich gerne damit verbringen, Tango tanzen zu lernen. Bis dahin versuche ich, dem Bären einen Schritt voraus zu sein, solange ich kann.«
Arkadi lauschte ihr nicht nur, er hatte vielmehr das Gefühl, allein mit ihr zu sein, und wenn sie allein wären, würde er ihr kühn eine Zigarette anbieten.
Als er einen Schlüssel im Schloss hörte, wollte er instinktiv die Kassetten und den Rekorder nehmen und in einen Küchenschrank stopfen. Er tat es nicht. Dann bereute er es.
Anja kam herein, hinter ihr Alexi Grigorenko. Ihre Gesichter waren gerötet vom Vorglühen auf eine Party und der ersten Flasche Champagner. Wenn es geschmacklos war, so bald nach dem Tod seines Vaters zu feiern, lag darin auch die Botschaft an die Männer aus der Generation seines Vaters, dass alte Manieren, selbst unter Dieben, aus der Mode gekommen waren. Alexi hielt sich anscheinend für einen Prinzen. Dabei war er nur leichte Beute. Die beiden gaben ein hübsches Paar im Designerlook ab, musste Arkadi zugeben. Im Vergleich dazu wirkte er, als hätte er sich von der Wäscheleine eines Fremden bedient.
»Alexi wollte meine Wohnung sehen, und dann glaubte ich, Tatjana in deiner zu hören«, erklärte Anja.
»Sie ist eine interessante Frau«, meinte Arkadi.
»Anscheinend ist sie selbst als Tote verführerisch.« Anja lief auf und ab, schnüffelte, als prüfte sie die Luft.
»Ich hoffe, wir stören Sie nicht«, sagte Alexi.
»Arkadi ist immer auf, fast wie ein Mönch bei seinen Gebeten.«
»Lösen Sie so Ihre Fälle?«, fragte Alexi. »Im Gebet?«
»Einen Großteil.«
Alexis Gesichtszüge waren weniger grob als die seines Vaters. Die Augen leicht verschleiert. Hände so flink und feingliedrig wie die eines Croupiers. Unter seinem Jackett zeichnete sich eine Waffe ab.
»Kann ich euch etwas zu trinken anbieten? Etwas zu essen?«, fragte Arkadi, als wäre irgendetwas in seinem Kühlschrank.
»Nein, danke«, erwiderte Anja. »Er will mir
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