Tatjana
völlig durch.«
»Habt ihr sie wenigstens gesehen?«
»Glaube schon.«
»Dann findet sie.«
»Und was ist mit den Vogelbeobachtern?«
»Wir werden rechtzeitig gewarnt. Die Straße wird die ganze Zeit überwacht.«
Nachdem Alexi weggefahren war, kämpften sich Arkadi und Tatjana durch das Geäst. Gelegentlich ertönten Schüsse. Schließlich verließen andere Autoscheinwerfer den Grenzposten, pflügten sich durch die Dunkelheit, und die Nacht wurde still.
Die Morgendämmerung brach nur allmählich an, enthüllte Dünen auf der einen Seite der Straße und das Meer auf der anderen. Arkadi und Tatjana fuhren langsam, sprachen nicht. Vor ihnen tauchte eine Gestalt aus dem Nebel auf, im Schlepptau ein Schlitten voller Abfall. Der Strandgutsammler. Genauso gut hätte er ein Pilger, ein Bettelmönch oder ein Wolgaschiffer mit seinem Treidelseil sein können. Jedenfalls war er Teil des Hintergrunds, jemand, den man sah, ohne ihn wahrzunehmen. Er zögerte, wie ein Mann es tut, wenn ihm Geister begegnen. Arkadi glitt im Leerlauf vorbei, bevor er abrupt die Richtung änderte. Tatjana tat auf der anderen Seite das Gleiche. Der Strandgutsammler brauchte einen Moment, um in Bewegung zu kommen, doch dann war er wie verwandelt. Er ließ sein Seil los, kippte den Schlitten um, und alles purzelte herunter. Von der Last befreit, raste er an Tatjana vorbei, die Knie hoch, stolperte und fand das Gleichgewicht wieder, verlor dabei jedoch Tuch und Sack. Während Arkadi sich durch rollende Dosen und Flaschen pflügte, hoppelte der Strandgutsammler hakenschlagend wie ein Hase eine Düne hinauf. Arkadi ließ sein Rad fallen und kletterte ihm nach, rutschend wie auf einem Laufband aus Sand. Am Scheitelpunkt der Düne erwischte Arkadi ihn an den Knöcheln und zog ihn hinunter. Der Mann war klein, wirkte halb verhungert, und die Augen quollen ihm aus dem Kopf.
»Sie haben uns beobachtet«, sagte Arkadi.
»Nur beobachtet. Das ist doch nichts Schlimmes.«
»Und Alexi Bericht erstattet.«
»Ich habe gar nichts getan. Bin nur die Straßen entlanggegangen, und Sie haben mich angegriffen. Ich kenne meine Rechte.«
»Vergessen Sie Alexi. Wo ist der Metzger? Der Mann mit dem Kastenwagen und dem Schwein auf dem Dach. Wie heißt er, und wo kann ich ihn finden?«
»Nein. Kommt nicht infrage.«
Angst verlieh ihm Kraft. Der Strandgutsammler zerrte seine eine Hand so weit frei, dass er Arkadi Sand ins Gesicht werfen konnte. Bis Arkadi sich die Augen ausgewischt hatte, war der Mann zwischen den Kiefern verschwunden.
Als Arkadi zu Tatjana zurückkehrte, war sie dabei, den Abfall aus Getränkedosen und Flaschen, Treibholzstücken, Muscheln, Tuch und Sack zu durchsuchen. Im Sack fand sie ein Butterbrot und ein Handy.
»Er ist weg«, sagte Arkadi.
»Macht nichts, der wird nicht so bald mit jemandem sprechen.« Tatjana reichte ihm das Handy.
Er klickte die Anrufliste an. Der letzte war ein Anruf bei einer Kaliningrader Nummer, nur wenige Minuten zuvor. Arkadi drückte auf Kontakte. Die Nummer gehörte Alexi.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Klar, tut mir nur leid, dass er mir entkommen ist.«
»Hat er irgendwas gesagt?«
»Nein, nichts.«
Wenn man auf der Flucht ist, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Man kann entweder flüchten oder sich unters Volk mischen. Im Touristenort Selenogradsk kauften sie sich Umhänge mit Kapuze und Ferngläser, um sich den Vogelbeobachtern anzuschließen, die der Route der Zugvögel folgten. Wie war das wohl, ganz normale Menschen zu sein? Mit einem Kind und einer Großmutter, die zu Hause warteten, einem Topf Wasser auf der Heizung, einer Katze mit einem wunderlichen Namen, ohne Furcht davor, dass ein Nachbar einem die Pistole an den Kopf hielt. Als ein schwarzes Auto vorbeifuhr, spielten sie die frisch Verheirateten und schlüpften in ein Andenkengeschäft, um sich nach den Preisen für Bernstein zu erkundigen. Überall gab es Bernstein zu kaufen, als Anhänger, Armbänder und Ketten, honigfarben oder dunkel wie Sirup, mit Apfelkernen oder den Flügeln einer Urzeitfliege, die zum letzten Mal gesummt hatte, als das Harz sie zu umschließen begann.
»Du genießt das«, sagte Arkadi. »Du magst die Jagd, selbst wenn du die Gejagte bist.«
»Als ich Kind war, habe ich nie verstanden, warum sich die Mädchen, wenn die Spiele begannen, immer hinsetzten, während die Jungs den ganzen Spaß hatten.«
»Du hast dich nicht verändert.«
»Ich bin eine Frau, die nicht gern zurückgelassen wird, wenn es das ist,
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