Tatort Oktoberfest (German Edition)
Tatsache, dass er urlaubsreif ist? Dabei liebt er seinen Schulungsjob. Alle drei Wochen sitzen neue junge, fragende Gesichter vor ihm, und er bringt ihnen die Gefahren eines EU-Einsatzes und die komplizierte Gesetzeslage anhand der weitverzweigten Tätigkeiten der Mafia, der ’Ndrangheta oder der Camorra nahe. Macht ihnen klar, dass Geduld bei der Verbrecherjagd als Grundtugend unverzichtbar ist. Nicht leicht, weil selbst ihn der fehlende Urlaub ungeduldig werden ließ. Und er sich Mühe geben musste, auf ihre neugierigen Fragen und ihre forsche Art des Wir-wissen-alles-besser nicht gereizt zu reagieren und aus der Haut zu fahren. Sogar Erica fiel seine Anspannung auf. „Was ist denn mit dir los, Tino? Du bist doch sonst geduldig wie ein Lamm.“ Die letzte Bemerkung von ihrer Seite war keinesfalls als Kompliment zu werten. Er verzichtete auf eine Rechtfertigung, brummte nur in sich hinein. Wie konnte er ihr, einer Mailänderin, seine unterdrückte Sehnsucht nach Kalabrien eingestehen? Nein, er musste allein mit diesem traurigen Gefühl in seinem Herzen fertig werden. Diesem ausgelaugten Zustand, der vergleichbar war mit dem eines im Restwasser der Waschmaschine vergessenen Wäschestücks.
Plötzlich drängte sich ihm die Frage nach dem Warum auf. Gedankenverloren wiegt di Flavio den Kopf. Die Beweggründe der Münchner Kripo, gerade ihn zum Oktoberfest anzufordern, bleiben ihm unverständlich. Sind seine Sprachkenntnisse der Grund? Oder ist es die Teilnahme am Einsatz in Duisburg? In der Duisburger Ermittlungskommission waren außer ihm noch weitere 19 Beamte im Einsatz. Hätte man nicht einen von ihnen …? Mischt die ’Ndrangheta etwa beim Oktoberfest mit? Aus seinem Kollegen, Hauptkommissar Wimmer, war am Telefon nichts Gescheites herauszubekommen.
Warum forderte man einen alten Esel wie ihn an, anstelle eines jüngeren Beamten? Weshalb meinen seine Vorgesetzten hat er sich den Unterrichtsjob ausgesucht? Nur wegen Erica? Mitnichten. Gut, vielleicht zu einem Teil, aber doch nicht ausschließlich. Vielmehr wollte er dem Dunstkreis der ’Ndrangheta entfliehen. In seinen Augen mehr als verständlich. Die Schutzgelderpressungen, die Brutalitäten, die Strohmänner mit der weißen Weste, der Waffenhandel, die Geldwäsche und die Vendetta – er hatte all dies satt. Kurz flackern Erinnerungen an lange, mühsame Ermittlungen, verzweifelte Gänge zu Katasterämtern und Banken, stundenlange Gespräche mit nicht gerade redseligen Personen sowie stundenlanges Mithören von Telefonmitschnitten auf, und er erinnert sich an die am Aufwand gemessenen klitzekleinen Erfolge. Der belastenden Gedanken müde winkt di Flavio die Stewardess zu sich, die gerade vorbeischwebt. „Könnte ich einen Whiskey bekommen?“ Die Vorstellung, ein weicher, irischer Whiskey würde alle Unannehmlichkeiten runterspülen, beseelt ihn.
„Bedaure, unser Service ist bereits geschlossen. Bitte schnallen Sie sich an, wir landen in Kürze.“ Schon ist sie mit ihrem prüfenden Blick zwei Reihen weiter. Enttäuscht sinkt di Flavio in den Sitz zurück. Keine Rettung für seine Bluesstimmung zu erwarten. Er starrt angestrengt auf den Tragflügel des Flugzeuges, widmet sich eingehend dem Motorengeräusch. Doch der Versuch der Ablenkung scheitert kläglich.
Statt der dienstlichen Belange kommt ihm Ericas ständiges Gemaule im letzten Jahr in den Sinn. Besonders bei seinem Einsatz in Duisburg gipfelte ihre Beschwerde in dem Satz: „Nie bist du hier, wenn ich dich brauche.“ Wobei sich das Brauchen bei Erica darauf beschränkte, ihn zu mallorquinischen Sommerpartys mitzuschleppen, um ihn irgendwelchen Leuten vorzustellen – „Das ist mein Mann, er ist EU-Beamter“ – und sich ansonsten von ihm hin und her chauffieren zu lassen. Welche Erleichterung, als sich für diese Minnedienste im Sommer ein gerade geschiedener Rechtsanwalt anbot. Er gönnte Erica diesen Spaß. Keine Frage, ein Aufenthalt in Duisburg war Erica absolut undiskutabel erschienen. Keine Sekunde hatte sie an den Gedanken verschwendet, ihn dort zu besuchen. Nicht, dass er dies wirklich gewollt hätte. Umso mehr erstaunte ihn, dass Erica, als es um seinen Einsatz in München ging, eine 180-Grad-Wende vollführte. Plötzlich war sie versessen darauf, ihn zu begleiten. Erstaunt über ihr unerwartetes Interesse wagte er zu fragen: „Wieso?“
Ihre Antwort versetzte ihn in Alarmbereitschaft. Dabei müsste er sie ja eigentlich kennen. „Frau X meint, in der Maximilianstraße könnte man
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