Tausend strahlende Sonnen
Mund.
»Schauen Sie mich an, hamshira .«
»Was ist das nur für eine Mutter, die ihr eigenes Kind im Stich lässt?«
»Schauen Sie mich an.«
Laila blickte auf.
»Machen Sie sich keine Vorwürfe. Hören Sie? Sie trifft keine Schuld. Es sind diese Wilden, diese wahshis , die an den Pranger gehören. Sie bringen Schande über mich als Paschtunen. Sie haben den Namen meines Volkes in den Schmutz gezogen. Und Sie, hamshira , sind wahrhaftig keine Ausnahme. Uns suchen viele Mütter auf, sehr viele, die ihre Kinder nicht mehr ernähren können, weil es ihnen die Taliban verwehren, einer Arbeit nachzugehen und für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Also, geben Sie sich nicht selbst die Schuld. Hier ist niemand, der Ihnen etwas vorwerfen würde. Ich kann Sie gut verstehen.« Er beugte sich vor. » Hamshira . Ich habe Verständnis für Sie.«
Laila wischte sich mit dem Ärmel der Burka die Augen.
»Was dieses Haus betrifft …« Seufzend deutete Zaman mit der Hand im Kreis. »Sie sehen ja selbst, in welch beklagenswertem Zustand es ist. Wir erhalten nur wenig Spenden und müssen uns nach der Decke strecken und improvisieren. Von den Taliban ist nur wenig oder keine Unterstützung zu erwarten. Aber wir schaffen’s auch ohne. Wie Sie, hamshira , wissen auch wir, was zu tun ist. Allah ist gut und freundlich, Allah sorgt für uns, und solange er das tut, werde ich mich darum kümmern, dass Aziza ausreichend zu essen bekommt und anständig gekleidet ist. So viel kann ich Ihnen versichern.«
Laila nickte.
»In Ordnung?« Er lächelte. »Weinen Sie nicht, hamshira . Zeigen Sie Ihrer Tochter nicht, dass Sie weinen.«
Laila wischte sich wieder die Augen. »Gott segne Sie«, flüsterte sie. »Gott segne Sie, Bruder.«
Als es Zeit wurde, Abschied zu nehmen, kam es zu der grauenvollen Szene, die Laila befürchtet hatte.
Aziza geriet in Panik.
Auf dem Nachhauseweg und noch Stunden später hallten Laila die Schreie ihrer Tochter im Kopf nach. Sie sah Zaman mit den Händen nach Aziza greifen, sie zunächst mit sanftem Nachdruck, dann aber mit Gewalt von ihr losreißen, und sie sah Aziza, in Zamans Armen gefangen, mit den Füßen austreten, als er sich beeilte, mit ihr hinter der nächsten Ecke zu verschwinden. Die Kleine schrie, als fürchtete sie, von der Hölle verschluckt zu werden. Und Laila sah sich selbst, wie sie mit gesenktem Kopf und einem in der Kehle erstickten Schrei den Korridor entlanglief.
»Ich rieche sie«, sagte Laila zu Mariam, als sie zu Hause angekommen waren. Aus tränennassen Augen schaute sie, ohne etwas zu sehen, über Mariams Schulter hinweg in den Hof, auf die Mauern und zu den Bergen, die so braun waren wie der Auswurf eines Rauchers. »Ich habe ihren Duft in der Nase, den Duft, wenn sie schläft. Du nicht auch? Riechst du’s nicht auch?«
»Oh, Laila jo «, sagte Mariam. »Hör auf damit. Zu was wäre es gut? Zu was?«
Anfangs gab Raschid Lailas Drängen nach und begleitete sie – Laila, Mariam und Zalmai –, wenn sie loszogen, um Aziza im Waisenhaus zu besuchen. Unterwegs dorthin stellte er jedes Mal sicher, dass sie seinen gequälten, leidenden Blick bemerkte und dass sie zu Ohren bekam, welche Beschwernis er ihretwegen auf sich nahm und wie sehr ihn von dem langen Marsch zum Waisenhaus und zurück seine Beine, der Rücken und die Füße schmerzten. Er ließ keine Möglichkeit aus, ihr deutlich zu machen, wie schrecklich schwer er es hatte.
»Ich bin kein junger Mann mehr«, jammerte er. »Aber das kümmert dich ja nicht. Wenn es nach dir ginge, würdest du mich in Grund und Boden rennen. Aber merke dir, Laila, es geht nicht nach deinen Wünschen.«
Zwei Blocks vor dem Waisenhaus blieb er zurück und sagte, dass er ihnen eine Viertelstunde gebe. »Keine Minute länger«, betonte er. »Sonst könnt ihr ohne mich zurücklaufen, denn ich bin dann weg.«
Laila flehte ihn an, ihr doch ein bisschen mehr Zeit mit Aziza zu gönnen, und nicht nur ihr, sondern auch Mariam, die untröstlich war über Azizas Abwesenheit, aber wie immer im Stillen darunter litt. Und auch Zalmai zuliebe, der tagtäglich fragte, wo seine Schwester sei, und in Wutanfälle ausbrach, die häufig in Weinkrämpfen endeten, denen nicht beizukommen war.
Manchmal blieb Raschid auf halbem Weg zum Waisenhaus stehen, klagte über Schmerzen im Bein und machte kehrt, um mit überraschend forschem, sicherem Schritt nach Hause zurückzueilen. Oder er schnalzte mit der Zunge und ächzte: »Meine Lungen, Laila. Ich bekomme kaum mehr
Weitere Kostenlose Bücher