Tausend strahlende Sonnen
Stimmen, eine Autohupe aus der Ferne und ein von regelmäßigen Quietschlauten unterbrochenes Surren, vielleicht von einem elektrischen Ventilator. Sie legte den Hörer ans andere Ohr und schloss die Augen.
Sie stellte sich Jalil vor, wie er lächelnd in seine Jackentasche griff.
Ah. Natürlich. Verstehe. Also dann …
Eine Kette mit herzförmigem Anhänger, an dem winzig kleine Münzen hingen, in die Mond und Sterne eingraviert waren.
Probier sie mal an, Mariam jo .
Wie steht sie mir?
Ich finde, du siehst aus wie eine Königin .
Nach zwei oder drei Minuten waren wieder Schritte zu hören, ein Knarren, ein Klicken. »Er kennt ihn.«
»Wirklich?«
»Das behauptet er jedenfalls.«
»Wo ist er?«, fragte Mariam. »Weiß dieser Mann, wo sich Jalil Khan aufhält?«
Es entstand eine kurze Pause. »Er sagt, dass er schon vor Jahren gestorben ist. 1987.«
Mariam stockte der Atem. Natürlich hatte sie an diese Möglichkeit gedacht. Jalil wäre inzwischen weit über siebzig, aber …
1987.
Er hatte also damals nicht mehr lange zu leben gehabt und war den ganzen Weg von Herat gekommen, um sich zu verabschieden.
Sie trat an den Rand des Balkons. Von dort oben konnte sie den einstmals berühmten Swimmingpool des Hotels sehen, der jetzt leer und verschmutzt war, voller Einschusslöcher und Scherben zerplatzter Fliesen. Dahinter lag ein heruntergekommener Tennisplatz, das zerrissene Netz am Boden wie eine abgestreifte Schlangenhaut.
»Ich muss jetzt Schluss machen«, sagte die Stimme am anderen Ende.
»Entschuldigen Sie nochmals die Störung«, erwiderte Mariam lautlos weinend. Sie sah Jalil, wie er ihr zuwinkte und über die Steine im Fluss hüpfte, die Taschen voller Geschenke. Sie hatte jedes Mal den Atem angehalten und Gott darum gebeten, dass sie mehr Zeit mit ihm würde verbringen dürfen. »Danke«, sagte Mariam, doch der Mann am anderen Ende hatte bereits aufgelegt.
Raschid sah sie an. Sie schüttelte den Kopf.
»Zu nichts zu gebrauchen«, brummte er und riss ihr das Telefon aus der Hand. »Wie die Tochter, so der Vater.«
In der Lobby eilte Raschid auf die inzwischen frei gewordene Sitzgruppe mit dem Teetisch zu und steckte sich einen übrig gebliebenen jelabi -Kringel in die Tasche. Er würde ihn mit nach Hause nehmen und Zalmai geben.
42
Laila
Aziza packte folgende Gegenstände in eine Papiertasche: ihr geblümtes Hemd und das einzige Paar Socken, die nicht zueinander passenden Wollhandschuhe, eine alte, mit Sternen und Kometen gemusterte sandfarbene Decke, einen zerkratzten Plastikbecher, eine Banane und ihre Würfel.
Es war ein kalter Morgen im April 2001, kurz nach Lailas dreiundzwanzigstem Geburtstag. Der Himmel war grau, und ein feuchtkalter Wind rüttelte in Böen an der Fliegengittertür.
Vor wenigen Tagen hatte Laila erfahren, dass Ahmad Schah Massoud nach Frankreich geflogen war, um vor dem Europäischen Parlament zu reden. Massoud hatte sich in den Norden, seine Heimat, zurückgezogen, wo er die Nordallianz anführte, die einzig verbliebene Oppositionsgruppe, die den Taliban die Stirn bot. In Europa hatte Massoud den Westen vor Ausbildungslagern für Terroristen in Afghanistan gewarnt und die Vereinigten Staaten eindringlich gebeten, ihn im Kampf gegen die Taliban zu unterstützen.
»Wenn uns Präsident Bush nicht hilft«, hatte er gesagt, »werden diese Terroristen bald auch den Vereinigten Staaten und Europa großen Schaden zufügen.«
Einen Monat zuvor war Laila zu Ohren gekommen, dass die Taliban die riesigen Buddhas in Bamiyan, die von ihnen als sündhafte Götzenbildnisse bezeichnet wurden, zerstört hatten. Von Amerika bis China war ein Aufschrei der Empörung zu hören gewesen. Staatsmänner, Historiker und Archäologen der ganzen Welt hatten die Taliban in Briefen aufgefordert, diese beiden größten noch existierenden Kulturschätze Afghanistans zu schonen. Doch davon unbeeindruckt, hatten die Taliban die zweitausend Jahre alten Buddhas mit Sprengladungen bespickt, jede Explosion mit Allah-u-akbar -Rufen gefeiert und gejubelt, sooft Teile eines Arms oder Beins der Statuen in einer Wolke aus Staub zerfielen. Laila erinnerte sich, 1987 mit Babi und Tarik bei strahlendem Sonnenschein und von einer sanften Brise umweht auf dem größten der beiden Buddhas gestanden und einen Falken beobachtet zu haben, der hoch über dem Tal seine Kreise zog. Die Nachricht von der Zerstörung der Statuen hatte sie jedoch kaltgelassen. Es war für sie nicht von Belang. Was zählten Statuen, wenn
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