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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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mitten im Wohnzimmer und schaute sich um. In der kolba hatte sie die Decke mit den Fingerspitzen erreichen können. Auf der Pritsche liegend, hatte sie am Einfallswinkel der Sonnenstrahlen die Zeit abzulesen vermocht. Sie hatte gewusst, wie weit sich die Tür öffnen ließ, bevor sie zu knarren anfing. In den dreißig Dielenbrettern kannte sie jeden Splitter und jeden Riss. Hier hingegen gab es nichts Vertrautes. Nana war tot, und sie, Mariam, war nun hier, in einer fremden Stadt, von Tälern, schneebedeckten Bergen und Wüsten getrennt von dem Leben, das sie kannte. Sie war in dem Haus eines Fremden. Mit verschiedenen Zimmern, dem Geruch kalten Tabaks, mit unbekannten Schränken voll unbekannter Gegenstände, mit schweren, dunkelgrünen Vorhängen und einer Decke, die sie nicht erreichen konnte. Mariam glaubte, ersticken zu müssen. Schmerzhaft sehnte sie sich nach Nana, nach Mullah Faizullah, nach ihrem alten Leben.
    Dann fing sie zu weinen an.
    »Was soll das?«, fragte Raschid ungehalten. Er griff in die Hosentasche, öffnete Mariams Finger und schob ihr ein Taschentuch in die Hand. Sich selbst steckte er eine Zigarette an, lehnte sich an die Wand und betrachtete Mariam, die das Taschentuch auf die Augen drückte.
    »Fertig?«
    Mariam nickte.
    »Sicher?«
    »Ja.«
    Daraufhin fasste er sie beim Ellbogen und führte sie ans Fenster des Wohnzimmers.
    »Der Blick geht nach Norden«, erklärte er und tippte mit dem krummen Zeigefingernagel auf die Scheibe. »Der Berg vor uns ist der Asmai, siehst du, und links davon der Berg Ali Abad. An seinem Fuß liegt die Universität. Hinter uns, im Osten und von hier aus nicht zu sehen, ist der Berg Shir Darwaza. Von dort wird an jedem Tag zur Mittagszeit ein Kanonenböller abgefeuert. Hör jetzt auf zu weinen. Ich mein’s ernst.«
    Mariam betupfte sich die Augen.
    »Das ist etwas, was ich nicht ausstehen kann«, knurrte er. »Heulende Frauen. Tut mir leid, dafür fehlt’s mir an Geduld.«
    »Ich will nach Hause«, sagte Mariam.
    Raschid schnaubte gereizt. Ein Schwall von Nikotingestank schlug Mariam entgegen. »Ich will’s mal nicht persönlich nehmen. Diesmal nicht.«
    Wieder fasste er sie beim Ellbogen und führte sie nach oben.
    Von dem engen, düsteren Flur gingen zwei Schlafzimmer ab. Die Tür zum größeren Zimmer stand offen. Mariam blickte in einen Raum, der wie alle anderen Räume spärlich möbliert war: mit einem Bett, auf dem eine braune Decke und ein Kissen lagen, einem Kleiderschrank und einer Kommode. Von einem kleinen Spiegel abgesehen, waren die Wände kahl. Raschid zog die Tür zu.
    »Das ist mein Zimmer.«
    Er sagte, sie werde im Gästezimmer schlafen. »Du hast hoffentlich nichts dagegen. Ich bin daran gewöhnt, allein zu schlafen.«
    Mariam verzichtete darauf, ihm zu sagen, wie erleichtert sie zumindest in dieser Hinsicht war.
    Der für sie bestimmte Raum war sehr viel kleiner als das Zimmer, in dem sie bei Jalil gewohnt hatte. Es war mit einem Bett, einer alten graubraunen Kommode und einem kleinen Schrank eingerichtet. Durch das Fenster sah man in den Vorhof und die Straße dahinter. Raschid stellte ihren Koffer in einer Ecke ab.
    Mariam setzte sich aufs Bett.
    »Ist dir nichts aufgefallen?«, fragte er. Er stand in der Tür, den Kopf eingezogen, um unter den Sturz zu passen. »Da, auf dem Fensterbrett. Weißt du, was das für welche sind? Ich hab sie dahin gestellt, bevor ich nach Herat aufgebrochen bin.«
    Erst jetzt sah Mariam einen kleinen Korb auf dem Fensterbrett. Über den Rand hingen weiße Nachthyazinthen.
    »Magst du sie? Gefallen sie dir?«
    »Ja.«
    »Dann kannst du dich ruhig dafür bedanken.«
    »Danke. Es tut mir leid. Tashakor …«
    »Du zitterst ja. Vielleicht habe ich dir Angst gemacht. Hab ich dir Angst gemacht? Fürchtest du dich vor mir?«
    Mariam sah ihn nicht an, hörte aber aus seinen Fragen heraus, wie sich Stichelei und Häme anfühlte. Sie schüttelte den Kopf und war sich darüber im Klaren, dass sie damit zum ersten Mal in ihrer Ehe gelogen hatte.
    »Nein? Dann ist es gut. Gut für dich. Das ist jetzt dein Zuhause. Es wird dir gefallen. Du wirst sehen. Habe ich dir gesagt, dass wir elektrisches Licht haben? An den meisten Tagen und jede Nacht.«
    Er machte Anstalten zu gehen, blieb aber noch mal stehen, zog an seiner Zigarette und blinzelte durch den Rauch, der ihm in die Augen stieg. Mariam glaubte, dass er noch etwas sagen wollte, es aber dann doch nicht tat. Er zog die Tür hinter sich zu und ließ sie mit ihrem Koffer

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