Tausend strahlende Sonnen
ist das?«, fragte sie.
»Das geht uns nichts an«, antwortete Babi. »Los jetzt, sonst kommen wir noch zu spät.«
Laila erinnerte sich an einen länger zurückliegenden Streit zwischen den Eltern und die schnippischen Worte ihrer Mutter: »Ja, das ist typisch für dich, nicht wahr, lieber Vetter, dass du dich aus allem heraushältst. Sogar dann, wenn’s um die eigenen Söhne geht. Wie hab ich dich angefleht, zu verhindern, dass sie gehen. Aber stattdessen steckst du deine Nase in diese verfluchten Bücher und lässt sie ziehen wie zwei haramis .«
Babi radelte die Straße entlang. Laila hatte die Arme um seinen Bauch geschlungen. Als sie an dem blauen Benz vorbeikamen, erhaschte Laila einen Blick auf den Mann, der auf dem Rücksitz saß. Er war sehr hager, hatte weißes Haar und trug einen dunkelbraunen Anzug mit einem weißen dreieckigen Einstecktuch in der Brusttasche. Außerdem fiel ihr auf, dass der Wagen Nummernschilder aus Herat hatte.
Schweigend fuhren die beiden weiter. Von Babi war nur etwas zu hören, wenn er vor einer Kurve abbremste und sagte: »Halt dich fest, Laila. Vorsichtig, schön vorsichtig.«
Nur mit Mühe konnte Laila an diesem Tag dem Unterricht folgen; sie dachte immerzu an Tarik, und auch der Streit zwischen den Eltern wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. So hatte sie auch nicht aufgepasst, als die Lehrerin sie nach den Hauptstädten Rumäniens und Kubas fragte.
Die Lehrerin hieß Shanzai, wurde aber hinter ihrem Rücken Khala Rangmaal genannt, Tante Malerin, denn wenn sie einen Schüler ohrfeigte, ließ sie in schneller Abfolge Handrücken und Handteller aufklatschen, was so aussah, als schwenkte ein Maler seinen Pinsel. Khala Rangmaal war eine junge Frau mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und dichten Augenbrauen. An ihrem ersten Schultag hatte sie voll Stolz erklärt, dass sie die Tochter eines armen Landarbeiters aus Khost sei. Sie hielt sich sehr gerade und hatte ihr pechschwarzes Haar zu einem festen Knoten im Nacken zusammengefasst. Wenn sie sich umdrehte, konnte man den dunklen Haaransatz im Nacken erkennen. Make-up oder Schmuck waren an ihr nie zu sehen. Sie trug auch keine Kopfbedeckung und verbat ihren Schülerinnen, sich zu verschleiern. Sie sagte, Frauen und Männer seien in jeder Hinsicht ebenbürtig und es gebe keinen Grund, warum sich Frauen verhüllen sollten, wenn Männer dies nicht täten.
Ihrer Meinung nach war die Sowjetunion, von Afghanistan abgesehen, die beste Nation auf der Welt. Ihre Führung stehe, wie sie sagte, auf Seiten der Arbeiterschaft und behandle alle Menschen gleich; alle Bürger der Sowjetunion seien glücklich und freundlich. Amerikaner hingegen würden sich aus Angst vor kriminellen Übergriffen kaum aus dem Haus trauen. Aber in Afghanistan, sagte sie, würden auch bald alle glücklich sein, sobald die Banditen von gestern, die sich gegen jeden Fortschritt stemmten, endlich geschlagen wären.
»Darum sind unsere sowjetischen Brüder 1979 in unser Land gekommen. Um ihren Nachbarn zu Hilfe zu eilen und den inneren Feind zurückzudrängen, dem daran gelegen ist, dass unser Land eine rückständige, primitive Nation bleibt. Auch ihr müsst helfen, Kinder. Ihr müsst jeden zur Anzeige bringen, der auf der Seite des Feindes steht. Das ist eure Pflicht. Haltet die Augen auf und erstattet Meldung. Selbst dann, wenn es eure Eltern, Onkel oder Tanten trifft. Denn keiner liebt euch so sehr, wie es euer Land tut. Denkt daran, euer Land steht immer an erster Stelle. Es wird stolz auf euch sein, so wie ich es bin.«
An der Wand hinter ihrem Pult hingen eine Karte der Sowjetunion, eine Karte Afghanistans und ein gerahmtes Foto des jüngsten kommunistischen Staatspräsidenten Nadschibullah, der, wie Laila von Babi wusste, früher Chef der Geheimpolizei KHAD gewesen war. Darüber hinaus gab es noch weitere Fotos im Klassenzimmer, vor allem von jungen sowjetischen Soldaten, die Apfelbäume pflanzten, Häuser bauten, immer freundlich lächelten und einfachen Bauern die Hände schüttelten.
»Nun«, sagte Khala Rangmaal , »störe ich dich etwa beim Träumen, inqilabi -Mädchen?«
So lautete Lailas Spitzname – Revolutionsmädchen –, denn sie war in der Aprilnacht des Putsches von 1978 zur Welt gekommen – allerdings nahm man im Beisein von Khala Rangmaal das Wort »Putsch« lieber nicht in den Mund. Sie bestand darauf, von einer inqilab zu sprechen, von einer Revolution der arbeitenden Bevölkerung. Verboten war auch das Wort »Dschihad«. Sie
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