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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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würde. In einem ihrer wenigen ernsten Momente hatte Hasina Laila anvertraut, dass ihre Familie bereits entschieden habe, sie mit einem Cousin ersten Grades zu verheiraten, der zwanzig Jahre älter war als sie und eine Autohandlung in Lahore besaß. »Bislang habe ich ihn zweimal gesehen«, hatte Hasina gesagt. »Und beide Male hat er beim Essen laut geschmatzt.«
    »Bohnen«, betonte Hasina. »Merkt euch das. Es sei denn …« – an dieser Stelle grinste sie verschmitzt und stupste Laila mit dem Ellbogen an –, »es sei denn, dein hübscher einbeiniger junger Prinz klopft bei dir an. Dann …«
    Laila stieß den Ellbogen von sich. Bei jedem anderen, der sich über Tarik lustig gemacht hätte, wäre Laila in Harnisch geraten. Aber sie wusste, dass Hasina es nicht böse meinte. Sie hatte einfach nur ein loses Mundwerk und verschonte niemanden, am wenigsten sich selbst.
    »So redet man nicht über andere«, sagte Giti.
    »Andere? Wen meinst du damit?«
    »Zum Beispiel Kriegsversehrte«, antwortete Giti mit ernster Miene und ging damit der Klassenkameradin auf den Leim.
    »Mir scheint, Mullah Giti hat sich in Tarik verguckt. Hab ich’s doch geahnt. Ha! Aber er ist schon vergeben. Hab ich nicht recht, Laila?«
    »Ich hab mich nicht verguckt«, entgegnete Giti. »In niemanden.« Die beiden entfernten sich von Laila und gingen streitend weiter.
    Laila legte den Rest des Weges allein zurück. Als sie in ihre Straße einbog, bemerkte sie, dass der blaue Benz immer noch vor dem Haus von Raschid und Mariam parkte. Der ältere Mann im braunen Anzug stand jetzt, auf einen Stock gestützt, neben der Motorhaube und schaute auf das Haus.
    Plötzlich hörte Laila eine Stimme hinter sich rufen: »He, Gelbhaar. Sieh mal her.«
    Laila drehte sich um und blickte in die Mündung einer Pistole.

17
    Die Pistole war rot und hatte einen grünen Abzugbügel. Der Finger am Abzug gehörte Khadim, einem dicken elfjährigen Jungen mit vorstehendem Unterkiefer. Er, der Sohn eines Metzgers, war in Deh-Mazang berüchtigt dafür, Passanten mit den Innereien von Kälbern zu bewerfen. Wenn Tarik nicht in der Nähe war, stellte Khadim Laila in den Pausen auf dem Schulhof nach, belästigte sie mit Anzüglichkeiten und gab wiehernde Geräusche von sich. Einmal hatte er ihr auf die Schulter getippt und gesagt: »Du bist so hübsch, Gelbhaar. Ich will dich heiraten.«
    Jetzt winkte er mit der Pistole. »Keine Bange«, sagte er. »Was da rauskommt, sieht man nicht. Nicht auf deinen Haaren.«
    »Untersteh dich! Ich warne dich.«
    »Womit willst du mir drohen?«, fragte er. »Wirst du mir deinen Krüppel auf den Hals hetzen? ›Oh, Tarik jan , komm bitte nach Hause und erlöse mich von diesem badmash .‹«
    Laila wich zurück, doch Khadim pumpte schon am Abzug der Pistole. Dünne Strahlen warmen Wassers trafen Lailas Haar und dann die Hände, als sie damit ihr Gesicht zu schützen versuchte.
    Andere Jungen, die sich bislang versteckt gehalten hatten, kamen jetzt herbeigerannt und feixten.
    Irgendwann war Laila einmal auf der Straße eine Beleidigung zu Ohren gekommen, die sie nicht so recht verstand, aber offenbar eine derart drastische Wucht hatte, dass sie ihr nun durchaus angemessen zu sein schien.
    »Deine Mutter ist eine Schwanzlutscherin.«
    »Immerhin ist sie nicht so bekloppt wie deine«, entgegnete Khadim ungerührt. »Und immerhin ist mein Vater keine Memme. Übrigens, willst du nicht mal an deinen Händen riechen?«
    Die anderen Jungen johlten: »Riech mal, riech mal!«
    Unwillkürlich führte Laila ihre Hände an die Nase, doch bevor sie daran roch, wurde ihr schlagartig klar, was Khadim damit gemeint hatte, dass man das Wasser nicht auf ihren Haaren sah. Sie stieß einen schrillen Schrei aus, was die Jungen zu noch lauterem Gejohle anstachelte.
    Laila drehte sich um und rannte kreischend nach Hause.
    In hektischer Eile schöpfte sie Wasser aus dem Brunnen, füllte damit eine Schüssel und zerrte sich das Hemd über den Kopf. Sie seifte sich die Haare ein und scheuerte, vor Abscheu wimmernd, die Kopfhaut mit den Fingerspitzen. Mehrmals hintereinander spülte sie die Haare und seifte sie wieder ein. Immer wieder drohte sich ihr der Magen umzustülpen. Heulend und zitternd schrubbte sie mit einem Waschlappen Gesicht und Hals, bis sich die Haut rötete.
    Das wäre ihr nie passiert, wenn sie Tarik bei sich gehabt hätte, dachte sie, als sie sich frische Sachen anzog. Khadim hätte es nie gewagt. Natürlich wäre es auch nicht dazu gekommen, wenn

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