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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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Mami sie, wie versprochen, abgeholt hätte. Manchmal fragte sich Laila, warum ihre Mutter überhaupt zugelassen hatte, mit ihr noch einmal schwanger zu werden. Eltern, so fand sie, sollte kein weiteres Kind erlaubt sein, wenn alle Liebe, die sie geben konnten, bereits aufgebraucht war. Voller Wut stürmte Laila in ihr Zimmer und ließ sich aufs Bett fallen.
    Als sie sich halbwegs beruhigt hatte, stand sie auf und klopfte an die Tür ihrer Mutter. Vor dieser Tür hatte sie früher manchmal stundenlang gehockt, ein ums andere Mal zaghaft angeklopft und den Namen ihrer Mutter geflüstert, immer wieder, wie eine Zauberformel, mit der sie einen Bann zu brechen versuchte: »Mami, Mami, Mami, Mami …« Doch Mami hatte die Tür nie geöffnet. So auch jetzt nicht. Laila drehte den Knauf und trat ein.
    Mami hatte manchmal auch gute Tage. Dann war sie schon morgens nach dem Aufstehen voller Elan, und die schwere Unterlippe kräuselte sich zu einem Lächeln. Dann nahm sie ein Bad, zog frische Kleider an und tuschte ihre Wimpern. Sie ließ sich von Laila Ohrringe anstecken und die Haare bürsten, was Laila besonders gern tat. Gemeinsam gingen sie dann zum Einkauf in den Mandaii-Basar. Laila brachte sie dazu, mit ihr das Leiterspiel zu spielen, und sie aßen Schokoladenspäne, eine der wenigen Naschereien, für die beide ein Faible hatten. Der für Laila schönste Moment an Mamis guten Tagen war, wenn Babi nach Hause kam, Mami vom Spielbrett aufblickte und lächelnd ihre braunen Zähne zeigte. Dann durchströmte Laila ein unvergleichliches Hochgefühl, denn es vermittelte sich ihr eine Ahnung von jener zärtlichen Romanze, die ihre Eltern früher einmal, als dieses Haus noch voller Leben und Heiterkeit war, miteinander verbunden hatte.
    An ihren guten Tagen backte Mami manchmal Kuchen und lud Nachbarinnen zu einer Tasse Tee ein. Laila schleckte die Teigschüssel aus, während Mami den Tisch mit Servietten und dem Geschirr für besondere Anlässe deckte. Wenn dann die Gäste gekommen waren, durfte Laila mit am Tisch Platz nehmen und den Gesprächen der Frauen zuhören, und es machte sie selbst stolz, wenn die Backkunst ihrer Mutter von allen gelobt wurde. Sie hatte in solchen Runden zwar selbst nicht viel zu sagen, genoss es aber, dabei zu sein, vor allem deshalb, weil ihr ein seltenes Vergnügen zuteil wurde: Sie hörte dann Mami mit liebevollen Worten von Babi sprechen.
    »Er war ein vorzüglicher Lehrer«, sagte sie. »Seine Schüler haben ihn verehrt. Und das nicht nur, weil er sie im Unterschied zu den anderen Lehrern nie geschlagen hat. Sie haben ihn geachtet, weil er sie geachtet hat. Er war großartig.«
    Besonders gern erzählte Mami die Geschichte ihrer Verlobung.
    »Ich war sechzehn, er neunzehn. Unsere Familien lebten im Pandschir Tür an Tür. Oh, was war ich vernarrt in ihn, hamshiras ! Ich bin fast jeden Tag über die Mauer zwischen unseren Häusern gestiegen, um dann mit ihm im Obstgarten seines Vaters zu spielen. Hakim hatte immer Angst, von meinem Vater Prügel zu beziehen. ›Der wird mir noch den Hosenboden versohlen‹, hat er immer gesagt. Er war ständig auf der Hut und sehr ernst. Und eines Tages habe ich dann zu ihm gesagt: ›Cousin‹, sagte ich, ›wie stet’s? Wirst du um meine Hand anhalten, oder soll ich der khastegari sein, der um dich wirbt?‹ Im Ernst, das habe ich gesagt. Ihr hättet sein Gesicht sehen sollen.«
    Mami klatschte vergnügt in die Hände, wenn dann die Frauen und auch Laila lachten.
    Solche Geschichten belegten, dass es eine Zeit gegeben haben musste, in der die Eltern glücklich gewesen waren und noch nicht in getrennten Zimmern geschlafen hatten. Laila wünschte, sie hätte diese Zeit miterlebt.
    Die Frauen am Tisch kamen unweigerlich auch darauf zu sprechen, welcher junge Mann und welche junge Frau ein gutes Paar abgäben. Wenn Afghanistan von den Sowjets befreit wäre und die Söhne nach Hause zurückkämen, würden sie wohl heiraten wollen, und so überlegten die Frauen, welche Mädchen aus der Nachbarschaft Ahmad und Noor gefallen könnten. Wenn von ihren Brüdern die Rede war, fühlte sich Laila immer ausgeschlossen, und ihr war, als würde man sich über einen besonders schönen Film unterhalten, den sie nicht gesehen hatte. Sie war zwei Jahre alt gewesen, als Ahmad und Noor ins Pandschir-Tal gezogen waren, um sich den Streitkräften Ahmad Schah Massouds anzuschließen und im Dschihad zu kämpfen. Laila hatte kaum eine Erinnerung mehr an sie. Ein glänzender Allah

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