Taylor Jackson 02 - Der Schneewittchenmörder
die Leiche erkannte. Er bewegte sich nicht, sein Gesichtsausdruck blieb gleich, aber trotzdem war das Gefühl da.
„Oh nein“, war alles, was er sagen konnte, bevor er an ihre Seite eilte.
Der Geruch nach Verwesung war stark. Taylor wollte nicht genau hinsehen, noch nicht. Sie durchquerte den Raum, passte dabei auf, wo sie hintrat, und ging zum Fenster. Es zeigte nach Westen, wo gerade die Sonne unterging. Die Wolken lagen übereinander wie Schichten von Tortenguss und reflektierten das Licht. Sie sahen aus wie in Blut getränkt, fleckiges Rot wie der Schaum bei einer Lungenverletzung. Taylor wusste, dass es sich um eine einfache Lichtbrechung handelte, dass die kalte, klare Winterluft oft einen so ungewöhnlichen Anblick hervorbrachte. Dunkelrote Abendsonne ist des Seglers höchste Wonne. Es hätte lieber eine rote Morgensonne sein sollen, damit Charlotte gewarnt gewesen wäre.
Jesus, das hier wünschte sie nicht ihrem schlimmsten Feind.
Nachdem sie sich wieder einigermaßen im Griff hatte, drehte sie sich um und betrachtete die grausame Szene. Das Licht der untergehenden Sonne färbte den Raum rosa und verlieh Charlottes Körper einen beinahe lebendigen Schimmer. Die grinsende Wunde auf ihrem Hals war schwarz von geronnenem Blut. Ihre rot gefärbten Lippen waren zu einem verzerrten Lächeln bemalt. Blut war in ihr Haar gelaufen, verwandelte die kupferfarbene Mähne in einen verklebten weinroten Fluss, dessen Arme sich über den weißen Kissen ausbreiteten, schmutzig rote Nebenarme, die vom Tod sprachen.
Ausgebreitet lag sie auf dem Bett, die Beine wie in Erwartung gespreizt.
Taylor hörte auf, Charlotte anzusehen, und schaute stattdessen Baldwin an, der immer noch über sie gebeugt dastand. Bisher hatte er kein Wort gesagt, aber jetzt drehte er sich zu Taylor um, das Gesicht verkniffen, die Lippen dünner, als sie sie je gesehen hatte. Er sah wie ein vollkommen anderer Mann aus. Sobald er sprach, war der Bann gebrochen, und sie waren wieder das Ermittlerteam anstatt zwei Personen, die von einer Tragödie berührt worden waren.
„Du weißt, was das heißt?“, fragte er.
Taylor nickte. „Ja.“
„Er hat das Muster schon wieder durchbrochen. Das hier war persönlich. Sie war kein zufälliges Opfer.“
„Da hast du wahrscheinlich recht. Aber wir müssen trotzdem nach dem Artikel suchen. Und dem Weihrauch und der Myrrhe. Wir müssen sichergehen, dass er es war, Baldwin.“
Er wandte sich wieder der Leiche zu. „Oh, daran habe ich keinen Zweifel. Ich glaube nicht, dass die Nachricht noch eindeutiger sein könnte, was meinst du?“
„Nein, aber wir müssen dem Protokoll folgen. Lassen wir Sam hier ihre Arbeit tun und die Leiche, Charlottes Leiche, in die Rechtsmedizin bringen.“
Einen Moment lang standen sie schweigend beieinander, dann trat er zur Seite. Charlottes Tod würde nicht ungesühnt bleiben.
Taylor sah zu, wie Sam Charlotte Douglas untersuchte und war wieder einmal berührt, wie andächtig ihre Freundin wurde, wenn sie mit den Toten arbeitete. Bei dem Anblick fiel ihr wieder ein, wie nah dran sie gewesen war, sich selber in der Pathologie wiederzufinden. Dass sie von L’Uomo hätte getötet werden können. Der Gedanke war mehr, als sie ertragen konnte. Es war Zeit, etwas zu tun. Zeit, alldem hier ein Ende zu setzen.
Sie verließ das Zimmer und suchte Baldwin, der auf dem Flur mit Fitz sprach. Einen Augenblick lang beobachtete sie die beiden. Sie wusste, dass etwas in ihr sterben würde, wenn Baldwin etwas zustieße. Ja, ihre Hochzeit war ein Desaster gewesen. Aber sie brauchte die Formalitäten nicht, um zu wissen, dass er zu ihr gehörte und sie zu ihm.
Sie musste die Antworten finden, ihm helfen, diesen Fall abzuschließen.
Die Männer bemerkten sie, und Baldwin schenkte ihr ein angespanntes Lächeln.
„Bist du okay?“, fragte sie.
„Ja.“
„Gut. Hier gibt es nichts mehr für mich zu tun. Also werde ich jetzt in die Bibliothek gehen und herausfinden, wer der vierte Mann aus meiner Erinnerung ist. Ich weiß, dass er der Schneewittchenmörder ist. Wenn wir seine Identität herausfinden, können wir ihn aufhalten. Und wir können seinen Nachahmer aufhalten. Es ist an der Zeit, das hier zu beenden.“
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und gab Baldwin einen Kuss auf die Wange. Die Bartstoppeln kratzten an ihren Lippen, aber das störte sie nicht.
„Brauchst du Hilfe, kleines Mädchen?“, fragte Fitz.
„Nein. Bleib hier, kümmere dich darum, dass Sam alles hat, was sie
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