Taylor Jackson 03 - Judasmord
den Centennial Boulevard hatte Taylor das Gefühl, in ein Kriegsgebiet geraten zu sein. Ein Tornado, der 1998 durch Nashville gefegt war, hatte diese Gegend verwüstet, und seitdem war nicht viel getan worden, um die Schäden zu beheben. Zwei Streifenwagen fuhren vorbei, beide Fahrer hielten ihre Hände mit den Handflächen nach unten aus dem Fenster – damit zeigten sie an, dass alles in Ordnung war und sie ihnen Deckung geben würden. Taylor erwiderte das Zeichen.
Nach wenigen Minuten hielten sie vor der Adresse, unter der Henry Anderson gemeldet war. Es wäre übertrieben, seine Unterkunft ein Haus zu nennen – es war kaum mehr als ein Schuppen mitdurchgesacktem Dach und Fenstern, die teilweise mit Pappkarton abgedichtet waren. Hinter dem Grundstück konnten sie ein Stück des Cumberland River sehen. Menschen vom Schlage eines Anderson wurden in aufstrebenden Nachbarschaften nicht gern gesehen.
Anderson lebte nicht auf großem Fuß. Das Geld, das er mit den Pornos machte, schien offensichtlich woanders hinzufließen. Taylor vermutete Drogen. Das Haus sah aus, als würde es ein Meth-Labor beherbergen.
Baldwin war ganz still geworden, als Taylor das Auto abgestellt hatte. Sie schaute ihn fragend an.
„Das hier ist eine Müllhalde“, sagte er. „Ganz sicher wohnt ein kriminelles Genie nicht in dieser Hölle. Was machte er mit seinem Geld?“
„Lustig, das waren genau meine Gedanken. Schauen wir es uns an.“
Sie stiegen aus dem Wagen. In ihren Zivilklamotten und den Sonnenbrillen sahen sie aus wie Cops, somit war es kein Wunder, dass sich im weiteren Umkreis niemand blicken ließ. Taylor wusste, dass sie Stärke zeigen mussten und nicht zögern durften. Sie ging mit großen Schritten über die staubige Fläche, die als Vorgarten diente, und klopfte an die Tür von Andersons Haus.
„Polizei! Aufmachen.“
Nichts.
Sie hämmerte erneut mit der Faust gegen die Tür, drei Mal. Bevor sie ein viertes Mal klopfen konnte, öffnete sich die Tür einen Spalt. Eine Frau schaute heraus. Taylor stieg ein einzigartiges Duftgemisch in die Nase, dessen zwei vorherrschende Gerüche Angst und alter Abfall waren.
Die Tür wurde noch ein wenig weiter geöffnet. Die Frau … das Mädchen, das nun vor ihnen stand, lächelte nicht.
„Was wollt ihr?“
Taylor sah, dass das Mädchen eine Uniform trug. Sie hatte ein Namensschild auf ihrer linken Brust, darauf stand Waffle House und darunter der Name Wendy in krakeliger, kindlicher Schrift. Sie trug eine schwarze Schirmmütze, auf der ein paar Buttons steckten. Ihr Haar war zu einer Art Pferdeschwanz zurückgebunden und in den Längen blond, an den Wurzeln fettig und ungekämmt und schwarz. Ihre Augen hatten ein dumpfes Braun, das Weiß war leicht gerötet, als ob sie nicht gut geschlafen oder irgendwelche Drogen genommen hätte.
„Wir suchen nach Henry Anderson.“
„Ist nicht da.“ Sie wollte die Tür wieder schließen, doch Taylor schob die Spitze ihres Cowboystiefels in den Spalt – und unterdrückte einen Aufschrei, als die Tür gegen ihren Zeh stieß.
„Wir würden gerne reinkommen. Wendy? Wir sind von der Metro-Mordkommission. Wir müssen mit Henry reden.“
Das Mädchen sah Taylor aus zusammengekniffenen Augen an. Ihre Zähne waren klein und schief und zeigten nach innen, als wenn sie sich mit Grausen vor dem Leben zurückzogen, das ihre Besitzerin gewählt hatte. Ohne ein Wort trat sie von der Tür zurück.
Taylor warf Baldwin über die Schulter hinweg einen Blick zu. Seine Hand lag auf seiner Waffe. Marcus hatte sein Holster schon geöffnet und die Dienstwaffe ein wenig herausgezogen. Sie nickten. Taylor stieß mit ihrem Stiefel gegen die Tür und ließ sie aufschwingen.
„Henry ist nicht hier“, wiederholte Wendy. Sie steckte sich eine Zigarette an, sog den Rauch tief ein und blies ihn hustend wieder aus.
„Willst du gar nicht wissen, wieso wir mit ihm reden müssen?“
„Geht mich nichts an. Ich hab das hier von ihm gemietet. Er wohnt hier nicht.“
Damit konnten sie auch illegale Vermietung von Bruchbuden auf die Liste von Andersons Sünden setzen.
„Wo wohnt er dann, Wendy?“
„Keine Ahnung.“ Sie widmete sich wieder ihrer Zigarette und beäugte Taylor misstrauisch aus gut drei Metern Entfernung. Ihren linken Arm hielt sie quer vor dem Bauch. Taylor schaute genauer hin. Das Mädchen stand leicht vornübergebeugt, und in dem dämmrigen Licht bemerkte Taylor, wie das Stehen ihr Schmerzen bereitete. In Verbindung mit dem gejagten,
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