Teeblätter und Taschendiebe
Tausender von Windeln für alle Tauben Bostons, die Dolph dann täglich wechseln sollte, führte zu seiner Entmündigung.
Inzwischen ist die Kellingsche Stiftergesinnung in sinnvolle Bahnen gelenkt worden: Dolph, dem Großtante Matilda, bei der er aufgewachsen war, die Frauen für immer verleidet zu haben schien, hat jenseits der Pensionierungsgrenze in Mary Smith noch eine Frau fürs Leben gefunden. Als verschämte Arme hat sie einst ihren Le-bensunterhalt aus Bostons Papierkörben gefristet; auf sie geht der Plan einer Stiftung zurück, die die wirksame Hilfe für Senioren mit dem Umweltschutz verbindet (»Der Rauchsalon«, DuMont's Kriminal-Bibliothek Band 1022). In den USA, in denen etwa Pfandflaschen noch heute so gut wie unbekannt sind, war das Umwelt- und Recycling-Bewußtsein zumindest in den achtziger Jahren noch wenig entwickelt und eher die ex-und-hopp-Mentalität gang und gäbe. So sammeln jetzt Bostons mittel- oder gar obdachlose Senioren Zeitungen, Flaschen und Getränkedosen auf und liefern sie gegen eine angemessene Gebühr im »Senior Citizens' Recycling Center« ab, das ihnen zugleich als Anlaufstelle, Treff, Wärmstube und Kantine dient. Jetzt soll der Stiftungszweck auch noch um die Bereitstellung preiswerten Wohnraums erweitert werden; hierzu soll eins der Lagerhäuser aus Fredericks Immobilienbesitz umgebaut werden.
Mit einem Familienrat zu Fragen des >fund raising<, der Akquisition von Spenden und Mitteln, in Fredericks und Matildas ehemaliger Residenz beginnt das Buch. So bescheiden die Kellings, deren Vermögen auf den Asienhandel im Anfang des 19. Jahrhunderts zurückgeht, in ihren Backsteinhäusern im Bostoner Nobelviertel Beacon Hill residierten, so protzig wilhelminisch-viktorianisch liebten sie es, wenn sie um die Jahrhundertwende in die Vororte ausschwärmten. Zudem wurden die riesigen historistischen Bauten von der Größe und Schönheit mittelstädtischer Bahnhöfe noch mit allem erdenklichen Plunder und gelegentlichen Kostbarkeiten vollgestopft, so daß man keinen der Räume betreten kann, ohne sich das Schienbein aufzuschlagen, wie die neue Eigentümerin Mary Kelling geborene Smith erklärt. Warum nicht möglichst viel davon auf einer Wohltätigkeitsauktion zugunsten der Seniorenstiftung losschlagen? Das Ereignis, das diesen neuenglischen Frieden stört, läßt nicht lange auf sich warten: Dolph wird ans Telefon gerufen und erfährt, daß einer der treusten seiner Stiftungssenioren erschlagen worden ist -vermutlich wegen des Kleingelds, das er bei sich trug. Ist dies auch menschlich bedauerlich - zumal sich Überfälle auf die Senioren häufen -, so ist ein anderer Umstand viel besorgniserregender: In der stiftungseigenen Plastiktüte, die den Senioren zum Sammeln dient und die Dolph bei der Identifikation der Leiche zusammen mit den anderen Habseligkeiten ausgehändigt wird, finden sich Spuren eines Pulvers, das sich bei diskreter Analyse als Heroin erweist. Damit nicht genug - der Ermordete, der als bettelarm galt, hinterläßt über 40.000 Dollar, und zwar ausgerechnet Mary Kelling und ihrer Stiftung.
Hier erweist sich eine weitere exotische Akquisition des Kelling-Clans wieder einmal als hilfreich: Max Bittersohn, der promovierte Kunsthistoriker und Spezialdetektiv, der seit etwas über einem Jahr Sarah Kelling Kellings zweiter Mann ist. In der Vergangenheit pflegten Kellings überwiegend Kellings zu heiraten, um das Fami-lienvermögen zusammenzuhalten; so kam es, daß Sarah in erster Ehe mit einem entfernten, vornehmen, liebenswürdigen und recht lebensuntüchtigen Onkel verheiratet war, der ihr Vater hätte sein können und nie richtig ihr Ehemann wurde. Das Eis gebrochen hat sozusagen der steinreiche Dolph, als er die bettelarme Mary Smith heiratete. Ihm folgte der schlecht und recht vom kleinen Legat einer Tante lebende Hobbyornithologe Alexander Brooks Kelling, als er mit dem Balzritual des Rauhfußhahns um die stattliche Theonia Sorpende warb, die als Halbzigeunerin Bostoner Damen diskret die Zukunft aus Teeblättern weissagte (»Madam Wilkins' Palazzo«, Du-Mont's Kriminal-Bibliothek Band 1035). Die dritte Mesalliance, die Sarahs mit dem aus der jüdischen Unterschicht aufgestiegenen Arbeitersproß, verzeihen ihr die meisten Mitglieder des Clans erst dann, wenn Max sich wieder einmal als nützlich erwiesen und sie aus einer Kalamität befreit hat (»Kabeljau und Kaviar«, »Ein schlichter alter Mann«, DuMont's Kriminal-Bibliothek Bände 1041, 1052). Auch jetzt ist
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