Teeblätter und Taschendiebe
versucht.
Jeremy Kelling war ungefähr genauso groß wie Brooks, aber etwa doppelt so breit. Es bestand zwar eine gewisse Familienähnlichkeit, immerhin waren die beiden Vettern, doch Sarah konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie Onkel Jem hingebungsvoll Seeadlerhorste ablichtete oder hinterhältige Verbrecher oder sonst-wen durch Geschick und Wendigkeit austrickste. Ihm war eher zuzutrauen, daß er potentielle Widersacher durch den gezielten Einsatz seiner Martini-Spezialmischung außer Gefecht setzte. Doch wahrscheinlich würde er im Notfall nur nach seinem Diener Egbert brüllen und alles weitere ihm überlassen. Neuerdings gewöhnte er sich zu Sarahs Ärger immer mehr an, nach Max zu brüllen.
In Sarahs Augen war Max Bittersohn das bei weitem interessanteste Mitglied der kleinen Gruppe. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, daß seine Ahnen bereits Priester im Tempel Salomons gewesen waren, als die Kellings noch blaue Kriegsbemalung trugen und sich mit den Pikten herumschlugen. Max war etwa ein Meter achtzig groß, und man sah ihm seine fast vierzig Jahre nicht an. Sein dunkelbraunes Haar war wunderbar wellig, und seine graublauen Augen sahen bedeutend mehr als die meisten Menschen auch nur ahnten.
In letzter Zeit nahm sein markantes Gesicht jedoch immer häufiger einen besorgten Ausdruck an, was eindeutig an seiner bevorstehenden Vaterrolle lag. Normalerweise war Max ein lebensfroher Mensch, wenn auch alles andere als ein Lebemann wie Jem. Von Beruf war er Privatdetektiv und hatte sich auf die Wiederbeschaffung gestohlener Kunstschätze spezialisiert. In letzter Zeit widmete er sich allerdings notgedrungen immer mehr seiner neuen Nebentätigkeit, die darin bestand, Mitgliedern des riesigen Kelling-Klans aus der Patsche zu helfen.
Sarah war sein erster Kelling-Fang gewesen, und der einzige, bei dem er noch nie das Bedürfnis verspürt hatte, ihn schnellstens wieder dahin zurückzuwerfen, wo er ihn gefunden hatte. Sie war klein und zierlich wie Brooks, doch das kantige Kelling-Kinn fiel bei ihr weicher und femininer aus, und die berühmte Kelling-Nase war ihr gänzlich erspart geblieben. Sie hatte braunes Haar, das bedeutend heller war als das von Max und jetzt, wo sie es kurzgeschnitten trug, in weichen Locken fiel. Wenn sie nicht gerade errötete, war ihr Teint zart und ziemlich hell. Sie war noch keine dreißig und so glücklich, wie eine werdende Mutter nur sein konnte, wenn man einmal von den unzähligen gutgemeinten Ratschlägen absah, die sie in letzter Zeit von diversen Verwandten erdulden mußte.
Den luxuriösen Wagen, den Max sich zugelegt hatte, hätte man als ersten Schritt in Richtung Lebemann deuten können, doch der Schein trog, denn er benötigte ihn für seine zahlreichen Dienstreisen. Für den Transport der geretteten Rembrandts brauchte er einen geräumigen Kofferraum, außerdem hatte er es meist mit wohlhabenden Klienten zu tun, die von ihm erwarteten, daß er standesgemäß vorfuhr. Dolph ließ sich unaufgefordert auf den Beifahrersitz fallen. Sarah zuckte mit den Achseln, schlüpfte kurzerhand unter dem Lenkrad durch, setzte sich in die Mitte und stellte ihre Füße auf den Getriebetunnel. Bevor Max sich ans Steuer setzte, vergewisserte er sich zuerst, daß sein zukünftiger Sprößling nicht in Gefahr war, zerquetscht zu werden. Theonia, die zwischen Jem und Brooks auf dem Rücksitz thronte, sah aus wie eine Edelrose zwischen zwei Boston Baked Beans.
Außer Dolph wohnten alle auf dem Beacon Hill. Jem teilte seine mit Erinnerungsstücken vollgestopfte Wohnung in der Pickney Street mit seinem unerschütterlichen Diener Egbert. Brooks und Theonia leiteten momentan das historische Haus aus braunem Sandstein in der Tulip Street, das Sarah von ihrem ersten Gatten Alexander Kelling geerbt und dann in eine erstaunlich vornehme Pension verwandelt hatte. Sarah und Max hatten inzwischen eine kleine Wohnung im Nachbarhaus bezogen und warteten darauf, daß ihr neues Haus in Ireson's Landing fertig wurde.
Zu dieser nachtschlafenen Zeit brauchte man von Chestnut Hill bis zum Zentrum nur zwanzig Minuten. Max schaffte die Strecke sogar in fünfzehn Minuten. »Wenn ihr nichts dagegen habt, bringe ich euch erst zur Pension und sorge dafür, daß Sarah sicher ins Bett kommt, bevor ich mit Dolph zum Leichenschauhaus fahre.«
»Ich will aber noch gar nicht ins Bett«, protestierte Sarah.
»Dann bleib doch so lange bei uns, bis Max zurückkommt. Werdenden Müttern soll man ihren Willen
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