Tentakelblut (German Edition)
der Konvoi bereits am Horizont zu erkennen. Viele, die Verwandte oder Freunde aus der Gegend erwarteten, aus der der Konvoi ursprünglich kam, hatten sich versammelt. Die Stimmung war gelöst. Gelächter war zu hören. Einige hatten Tränen der Vorfreude im Gesicht. Hoffnung und Vorfreude vermischten sich bei einigen der Wartenden fast zu einer eigenen Form emotionaler Hysterie. Roby war sich einigermaßen sicher, dass er ebenfalls vornehmlich dämlich grinste. Bella nach all der Zeit wiederzusehen, das war schon etwas, auf das er sich freute.
Es war keinesfalls so, dass sich hier im Lager keine Gelegenheit ergeben hätte, neue Bande zu knüpfen. Verzweifelte Zeiten wie diese boten einem agilen jungen Mann ungeahnte Möglichkeiten. Beziehungen wurden getrennt, Familien auseinandergerissen. Viele Flüchtlinge waren ohne jeden Anhang angekommen, darunter zwangsläufig auch ein signifikanter Prozentsatz junger Frauen. Und man konnte behaupten, was man wollte: In Zeiten wie diesen versprach eine Uniform, getragen von einem Unteroffizier im Sondereinsatz, der sich auch noch als Hornet-Waffenführer einen Namen gemacht hatte, so etwas wie eine Illusion von Sicherheit. Es gab genügend junge Frauen, die das sehr attraktiv fanden. Es gab auch genügend junge Frauen, die sich schlicht furchtbar langweilten in der zunehmend eintretenden Monotonie des Lagers und die auf der Suche nach einem angenehmen Zeitvertreib waren.
Ein anderer, nur etwas jüngerer Roby hätte sich diese Gelegenheiten sicher nicht entgehen lassen. Der derzeitige Roby war eine andere … Generation, wenn er seinen persönlichen Entwicklungsprozess so einteilen wollte. Er war nicht grundsätzlich abgeneigt. Er war weder blind noch hatte sein Sexualtrieb gelitten. Aber er war … vielleicht einfach etwas wählerischer. Das hieß aber nicht, dass in einer grenzwertigen Situation seine Selbstbeherrschung ewig halten würde.
Dafür kannte er sich dann doch gut genug.
Außerdem war dabei immer noch zu berücksichtigen, dass eine enge Beziehung zu Bella ihm möglicherweise helfen konnte, ein Ticket auf dem Fluchtschiff zu ergattern, eine Aussicht, gegen die er nichts einzuwenden hatte. Und ja, er dachte an sich und sein Wohl. Wer wollte ihm dies verübeln?
Es dauerte noch etwa eine halbe Stunde, dann öffneten sich die Außentore der alten Militäranlage und die Fahrzeuge rollten in den Innenbereich. Sie wurden sofort in die unterirdische Hangars geleitet, wo sie erwartet wurden. Der Großteil der Militäranlage lag unterirdisch, wie Roby hatte erfahren dürfen. Er hatte sie jedoch nie in ihrem ganzen Ausmaß besuchen dürfen. Er nahm an, dass dort vor allem Vorräte gelagert wurden. Die größten unterirdischen Hallen, die er erblickt hatte, beinhalteten den großen Transportshuttle, der die Flüchtlinge in Etappen zum Raumschiff bringen sollte. Er fasste gut 200 Passagiere, es war ein massives, gedrungen wirkendes Raumfahrzeug, das mit zusätzlicher Panzerung sowie jeweils zwei großen Gatlings bestückt worden war, die als Gausskanonen vor allem zur Abwehr von anfliegenden Raketen dienten. Zweimal war dieses Ungetüm in diesem Monat bereits gestartet und wieder heil zurückgekehrt, beladen mit Ausrüstungsgegenständen. In der kommenden Woche sollte die erste Fuhre an Passagieren hochgeschossen werden. Die Besatzung des Fluchtraumschiffes, so hatte Roby gehört, sei bereits seit mehr als einem halben Jahr an Bord und habe alles vorbereitet.
Der Aufbruch würde demnach nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Die Entscheidung, ob Roby hier als Saatbeet eines Tentakels enden oder eine Chance zur Flucht haben würde, rückte näher. So gesehen passte die Ankunft Bellas sehr gut. Sie war sein Unterpfand. Roby wusste, dass es freie Plätze gab. Es passierte, dass Konvois nicht durchkamen oder einzelne Kirchenmitglieder unerwartet starben, oft aufgrund von Zufällen oder ganz normalen Krankheiten oder Unfällen. Es waren nicht viele freie Tickets, aber es gab sie, und im Stillen wunderte es Roby, dass sich dafür noch kein Schwarzmarkt gebildet hatte. Und sei es nur von Leuten, die lediglich von sich behaupteten, Zugriff auf die freien Plätze zu haben, und Luftnummern für ein Nümmerchen zu verkaufen bereit waren.
Die Rahels hatten die Sache wohl ganz gut im Griff.
Und da war Bella! Sie kletterte aus einem der Busse, sichtlich erschöpft, aber ebenso froh wie die Wartenden. Sie trug staubige Uniformteile, die abgenutzt aussahen. Trotz ihrer schlanken
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