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Teranesia

Titel: Teranesia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Egan
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die Versorgung der Straßenkinder mit Nahrung und Bildung, die Unterrichtung der Frauen in Wirtschaft und Selbstverteidigung –, waren die Rationalisten von Kalkutta gegen die Gurus und Propheten angetreten, die Wunderheiler und Mystiker, die in der Stadt ihr Unwesen trieben, und hatten sie als Betrüger entlarvt. Im Alter von zwölf Jahren hatte Rajendra miterlebt, wie ein Mitbegründer der Bewegung, Prabir Ghosh, einen selbsternannten Heiligen herausforderte, der seinen Lebensunterhalt mit der Heilung von Schlangenbissen verdiente. Ghosh hatte von ihm verlangt, das Leben eines Hundes zu retten, der zusammen mit einer Kobra in einen Käfig gesperrt worden war. Vor dem Publikum aus tausend begeisterten Anhängern hatte der Heilige fünfzehn Minuten lang magische Gesten vollführt und immer verzweifeltere Gebete gemurmelt, während das arme Tier in Todeskrämpfen zuckte, bis er schließlich zugegeben hatte, dass er keinerlei magische Fähigkeiten besaß, und empfahl, dass jeder, der von einer Schlange gebissen wurde, unverzüglich im nächsten Krankenhaus Hilfe suchen sollte.
    Rajendra war tief von der – wenn auch reichlich verspäteten – Ehrlichkeit des Mannes beeindruckt gewesen. Manche Scharlatane strengten sich an, den Bluff aufrechtzuerhalten, nachdem sie längst ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt hatten. Doch die Überzeugungskraft dieser Demonstration hatte ihn noch viel mehr beeindruckt. Es war allgemein bekannt, dass viele Schlangen gar nicht giftig waren, und ein leichter Biss oder eine kräftige Konstitution konnte bewirken, dass manche Leute die Begegnung mit einer wirklich giftigen Spezies überlebten. Der Ruf des Heiligen musste sich dadurch entwickelt haben, dass er Menschen ›geheilt‹ hatte, die ohnehin überlebt hätten. Jeder Erfolg war ein freudiges Wunder, das lauthals verkündet wurde, um mit zahlreichen Ausschmückungen hundertfach nacherzählt zu werden – ganz im Gegensatz zu jedem traurigen und keineswegs wundersamen Todesfall. Aber diese einfache öffentliche Probe hatte alle zweifelhaften Punkte ausgeräumt: Die Schlange war giftig, die Bisse waren tief und zahlreich… und das Opfer war vor den Augen von tausend Zeugen gestorben.
    Während des minutenlangen Schweigens, das auf den Tod des Hundes folgte, hatte sich Rajendra für seine Berufung entschieden. Leben und Tod waren große Geheimnisse für ihn, aber kein Geheimnis war unantastbar. Die frühesten Versuche, diese Dinge zu verstehen, so hatte er überlegt, mussten an scheinbar unüberwindlichen Hürden gescheitert sein, um schließlich zu verunglückten Erkenntnissystemen zu versteinern oder degenerieren. Das war der Ursprung der Religionen. Doch irgendwo hatte es immer irgendjemanden gegeben, der die Suche voller Vertrauen fortgesetzt hatte; irgendwer hatte immer die Kraft gefunden, weiterhin zu fragen: Sind die Dinge, an die ich glaube, wahr? Dieses Erbe würde er antreten. Hindus, Moslems, Buddhisten, Sikhs, Jains, Parsen und Christen, von den aufrichtigsten Mystikern, die sich selbst etwas vormachten, bis zu den zynischsten Betrügern, sie alle konnten niemals mehr als einen billigen Abklatsch auf die Suche nach der Wahrheit vollbringen. Er wollte die Wahrheit über jeden Glauben stellen und auf die Jagd nach den Geheimnissen des Lebens und des Todes gehen.
    Er wollte Biologe werden.
    Vier Jahre später arbeitete Rajendra als Buchhalter in einem Lagerhaus, machte ein Abendstudium und half sonntags in der IRA-Schule aus, als Radha Desai die Selbstverteidigungskurse für Frauen übernahm. Jede Woche sah er, wie sie eintraf, in einen einfachen weißen Karateanzug gekleidet, von einem Mann Anfang Dreißig chauffiert, der eindeutig kein Diener war. Rajendra benötigte einen ganzen Monat, um festzustellen, dass sie weder verheiratet noch verlobt war. Der Chauffeur war ihr älterer Bruder, und der einzige Grund, warum sie nicht selbst fuhr, war ihre Sorge, dass der Wagen geplündert werden könnte.
    Prabir fiel es schwer, nicht laut aufzulachen, als er beschrieb, wie seine Eltern zueinander gefunden hatten, aber er wusste, dass Eleanor brennend an dieser Geschichte interessiert war, auch wenn er nicht allzu viele authentische Details parat hatte und improvisieren musste. In Prabirs Version hatte Rajendra versucht, den Chor, mit dem seine Klasse aus Bettlern das kleine Einmaleins aufsagte, synchron auf die Rufe Radhas abzustimmen, während sie die Liegestütze und Kniebeugen ihrer Gruppe auf dem Hof zählte. So konnte er jedes

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