Teranesia
lebensfähigen erwachsenen Exemplars. Man konnte Insekten über mehrere Generationen teratogenen Faktoren aussetzen, bis jedem zweiten Tier Köpfe an beiden Körperenden wuchsen, aber solch vollkommene, harmlose und – wie Rajendra vermutete – günstige Veränderungen konnten sich nur im Verlauf einer jahrmillionenlangen separaten Evolution herausbilden. Doch wie konnte diese eine Schwalbenschwanzart länger als jeder andere Schmetterling der Welt isoliert gewesen sein?
Radha hatte genetische Untersuchungen durchgeführt. Die Versuche zur Bestimmung der evolutionären Genealogie des Schmetterlings durch gebräuchliche Marker hatte nur unsinnige Resultate erbracht – aber alte DNS, die sich bereits teilweise zersetzt hatte, war ohnehin nicht sehr zuverlässig. Rajendra flehte den Händler an, ihm ein lebendes Exemplar zu beschaffen, doch dieser weigerte sich, weil es mit zu vielen Umständen verbunden war. Schließlich hatte er ihm widerstrebend den Namen seines Lieferanten in Ambon offenbart. Rajendra schrieb an den Mann, insgesamt dreimal, doch es kam keine Antwort.
2006 hatte das Paar genügend Geld zusammengekratzt, dass Rajendra sich persönlich auf die Reise nach Ambon machen konnte, und er hatte genügend Bahasa Indonesia gelernt, um ohne Dolmetscher mit dem Lieferanten sprechen zu können. Nein, der Lieferant konnte ihm keine lebenden Exemplare beschaffen – nicht einmal weitere tote. Die Schmetterlinge waren von gestrandeten Fischern eingesammelt worden, die sich damit die Zeit vertrieben hatten, während sie auf ihre Rettung warteten. Niemand stattete der betreffenden Insel gezielte Besuche ab, weil es einfach keinen Grund dazu gab, und der Lieferant konnte sie ihm nicht einmal auf einer Karte zeigen.
»Fischer von wo?«
»Kai Besar.«
Rajendra telefonierte mit Radha. »Verkaufe all meine Lehrbücher und schick mir mehr Geld.«
Mit Hilfe der verdutzten Fischer sammelte Rajendra Dutzende von Schmetterlingspuppen auf der Insel ein. Er hatte keine Ahnung, wie sie im Larvenstadium aussahen, also nahm er mehrere Exemplare sämtlicher Variationen mit, die er finden konnte. In Kalkutta schlossen fünfzehn der Puppen ihre Metamorphose ab, und aus dreien schlüpfte der mysteriöse Schwalbenschwanz.
Die frische DNS bestätigte nur die alten Fragen und warf neue auf. Strukturelle Unterschiede in den Genen für Neotenin und Ecclyson, zwei wichtige Entwicklungshormone, deuteten darauf hin, dass sich die Vorfahren des Schmetterlings vor dreihundert Millionen Jahren von der Gruppe der sonstigen Insekten getrennt hatten – etwa vierzig Millionen Jahre vor der Entwicklung der ersten Lepidopteren. Diese Schlussfolgerung war offensichtlich unsinnig. Andere Gene erzählten weitaus glaubwürdigere Geschichten, aber die Diskrepanz selbst war bemerkenswert.
Radha und Rajendra verfassten gemeinsam einen Artikel, in dem sie ihre Entdeckung beschrieben, aber alle Zeitschriften, denen sie ihn anboten, weigerten sich, ihn zu veröffentlichen. Ihre Beobachtungen waren einfach nur absurd, und sie hatten keine Erklärung parat. Die Gutachter der Zeitschriften mussten zu dem Schluss gelangt sein, dass sie schlicht inkompetent waren.
Eine Gutachterin jedoch, die den Artikel für Molecular Entomology geprüft hatte, war anderer Meinung und nahm direkten Kontakt mit Rajendra auf. Sie arbeitete für Silk Rainbow, eine japanische Biotechnik-Firma, die sich darauf spezialisiert hatte, Insektenlarven für die Herstellung von Proteinen zu benutzen, die sich nicht für die Massenproduktion in Bakterien oder Pflanzenzellen eigneten. Ihre Arbeitgeber waren von den genetischen Absonderlichkeiten des Schmetterlings fasziniert; es gab keine offensichtlichen kommerziellen Anwendungsmöglichkeiten, aber sie waren trotzdem bereit, weitere Forschungen zu finanzieren. Wenn Radha einverstanden war, ihnen DNS-Proben zu schicken, und sich die unveröffentlichten Resultate bestätigten, würde die Firma für eine Expedition zahlen, um die Schmetterlinge in ihrer natürlichen Umgebung zu studieren.
Prabir hatte den größten Teil dieser Geschichte lange nach den Ereignissen rekonstruiert. Selbst als er alt genug gewesen war, um die Aufregung wegen des Schmetterlings zu verstehen, hatte er sich nie sonderlich dafür interessiert, doch er konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als die Nachricht aus Tokio eintraf.
Seine Mutter hatte ihn an den Händen genommen und war mit ihm durch ihre winzige Wohnung getanzt, während sie sang: »Wir fahren
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