Terra Anchronos (German Edition)
die Szene so deutlich, als sei sie Wirklichkeit.
„Immer wieder hat mein Stiefvater mich angeschrieen und mir die Schuld an dem Elend gegeben.
Wenn ich nicht wäre, bräuchte er auch mein Maul nicht zu stopfen. Das Geld würde er sich gerne sparen, um Piet, seinem eigen Fleisch und Blut, Medizin kaufen zu können.“
Arne stockte der Atem. Sein Vorstellungsvermögen reichte nicht aus, um zu glauben, welche Worte Martha ihrem Stiefvater in den Mund legte.
„Als Piet auch in der dritten Nacht nicht aufstehen konnte“, fuhr Martha fort, „zerrte mein Stiefvater mich aus dem Stroh und zwang mich, ihn zu begleiten. So wie ich jetzt vor dir stehe, sind wir in der Nacht zum 29. Februar 1824 zum Strand gegangen.
Ich habe erbärmlich gefroren. Ich trage heute noch die blauen Flecken am Handgelenk.“
Zum Beweis trat Martha dicht an Arne heran und schob den linken Ärmel ihres Kleides hoch. „Siehst du die Fingerabdrücke der Hand meines Stiefvaters?“
Tatsächlich waren die Abdrücke überdeutlich zu erkennen und langsam begannen Arnes Zweifel an der Geschichte zu schwinden.
„Die Ebbe hat uns weit auf die Nordsee hinausgetragen. Ich musste rudern, während mein Stiefvater im Heck des Bootes lag und Schnaps trank. Die ganze Zeit beschimpfte er mich, spie in die Nordsee, verwünschte den Tag, an dem ich in sein Haus gekommen sei. Irgendwann, es muss gegen Mitternacht gewesen sein, befahl er mir, das Netz einzuholen.“
„Aber dafür bist du doch viel zu schwach.“ Arne war empört.
„Ich habe alles getan, was mein Stiefvater sagte. Als meine Kräfte mich verließen, stand er plötzlich hinter mir, der ehrenwerte Brunken Achterdiek.“
Martha hielt Arne die Polizeiakte unter die Nase.
„Da steht es: Der ehrenwerte Fischer Brunken Achterdiek aus Bensersiel...“ Martha lachte kurz verächtlich auf. „Ehrenwert! Eine größere Lüge kann es kaum geben.“ Sie sah Arne an. „Willst du wissen, was dieser ehrenwerte Mann getan hat?“
Arne war sich nicht sicher, denn er befürchtete das Schlimmste. Doch die Neugier ließ ihn fast unmerklich mit dem Kopf nicken.
„Er hat mich an beiden Schultern gefasst und zu sich umgedreht. Dann hat er mir mit seinem stinkenden Atem al en Hass ins Gesicht gespuckt. Ich sol e noch einmal beten. Anschließend würde er dafür sorgen, dass ich niemals mehr nach Hause zurückkehren werde.“
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Martha zwar mit zitternder Stimme und auch sehr leise gesprochen, doch schien sie einigermaßen gefasst. Nun hingegen brachen die Tränen aus ihr heraus und sie warf sich an Arnes schmale Schultern, die nicht viel breiter waren als die des Mädchens. Vorsichtig strich der Junge über die blonden Locken und schwieg, da er nicht wusste, was er zum Trost sagen konnte. Ihm wollten einfach keine Worte einfallen.
„Er hat mich von Bord gestoßen. Ich sah nur, wie er sich in die Riemen legte und ohne sich umzublicken davon ruderte.“
„Wir müssen zur Polizei gehen.“ Arnes Entschluss stand fest. Das Verbrechen musste angezeigt werden.
Dann jedoch zögerte er. Sein Blick fiel auf das alte Papier und die Jahreszahl 1824. Vergangenheit und Gegenwart hatten sich zu einer Geschichte verwoben, die er nicht entwirren konnte. „Ich verstehe das nicht. Dann musst du ja fast zweihundert Jahre alt sein. Das ist unmöglich.“
Zu Arnes Überraschung korrigierte Martha ihn nur geringfügig. „Ich bin 196 Jahre alt.“
Die Verblüffung stand Arne ins Gesicht geschrieben. „Du siehst nicht älter aus als...“, Arne schaute das Mädchen prüfend an.
„Zwölf“, sagte sie.
Noch bevor die beiden weitersprechen konnten, waren schwere Schritte auf der Holzstiege zu hören.
In Windeseile schob Martha die Polizeiakte unter ihr Kleid und legte warnend einen Finger auf den Mund.
„Zeit, ins Bett zu gehen, Kinder. Es ist spät.“ Arnes Vater erschien auf dem Dachboden und sah sich eine geraume Weile um. Dann lächelte er und schob seinen Sohn in Richtung der Treppe. Martha bedeutete er mit einer auffordernden Geste, ihm zu folgen. „Ich bin lange nicht hier oben gewesen. Der alte Kram sieht aus, als sei man in einem längst vergangenen Jahrhundert gelandet.“
Martha und Arne fanden an diesem Abend keine Gelegenheit mehr, miteinander zu sprechen. Die Mutter hatte beiden die Betten gerichtet und duldete keine weitere Verzögerung. In den Schlaf konnte Arne jedoch noch lange nicht finden, auch wenn es spät geworden war. Noch Stunden später wälzte er sich ruhelos
Weitere Kostenlose Bücher