Terra Anchronos (German Edition)
Dachboden der Scheune stand. Sie blickte lange reglos durch das Giebelfenster. Hinter dem Deich lag die Nordsee. An diesem Tag waren einige Schiffe zu sehen, die schwarze Rauchfahnen hinter sich herzogen und scheinbar gemächlich dem nächsten Hafen zustrebten. Arne saß hinter ihr und wartete darauf, dass Martha ihre Erzählung fortführen würde. Es lag eine Spannung in der Luft, die er kaum aushalten konnte. Andauernd wechselte er die Sitzposition in seinem Thron und ächzte dabei wie ein alter Mann, wenn er den angehaltenen Atem geräuschvoll ausstieß.
Ohne sich umzudrehen, fragte Martha plötzlich: „Warum nur ist die Insel nie entdeckt worden?“
„Welche Insel?“ Arnes Gegenfrage kam so schnell, als habe er sie schon lange auf der Zunge gehabt.
„Zuerst war es nur ein schwacher Geruch nach Moder und Fäulnis, den ich wahrgenommen habe. Wie verfaultes Heu, so kam es mir vor. Dann hörte ich ganz schwach und entfernt menschliche Stimmen und ich begann zu schwimmen. Meinen Stiefvater habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Ich war auch schon eine ganze Weile im Wasser. Mir war eiskalt. Ich war müde. Die Kleider zogen mich ständig unter Wasser, und bestimmt hätte ich keine halbe Stunde mehr überlebt, wenn da nicht diese Stimmen gewesen wären.“
Martha drehte sich um und schaute Arne an.
„Kannst du dir vorstellen, wie es ist, wenn man glaubt, den Verstand zu verlieren? Weit und breit ist nur Wasser und plötzlich sind da Stimmen, die immer lauter werden?“
Arne schüttelte wortlos den Kopf, obwohl er wusste, dass ein über Bord gefallener Seemann so gut wie tot ist. Sein Vater hatte es ihm oft genug erzählt.
Schiffbrüchig zu sein war in Arnes Augen durchaus ein Grund, den Verstand zu verlieren. Sich das jedoch vorzustellen? Nein! Er blieb bei seinem Kopfschütteln.
Ihn schauderte.
„Ich schwamm um mein Leben. Die Stimmen, davon war ich überzeugt, konnten nur Einbildung sein.
Aber sie waren auch meine einzige und letzte Hoffnung. Der Gestank wurde immer schlimmer, je weiter ich schwamm. Die Stimmen nahmen an Lautstärke zu, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass es nur geflüsterte Worte waren, die ich hörte.“
Arne wollte Martha unterbrechen und ihr sagen, dass der Schall sich auf dem Wasser viel besser ausbreiten konnte und daher auch leise Gesprochenes durchaus gut vernehmlich sein konnte. Ehe er jedoch in der Lage war den Mund zu öffnen, sprach Martha schon weiter.
„Plötzlich spürte ich Boden unter den Füßen. Ich stellte mich hin und konnte vor Erleichterung kaum rufen. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Wie konnte an dieser Stelle Land unter meinen Füßen sein?
Das Merkwürdigste jedoch war, dass sich der Boden hob. Eben hatte ich noch bis zum Hals im Wasser gestanden. Meine Hände hätten doch unter Wasser tauchen müssen, als ich das Kreuz schlug. Das Vater unser, das ich zum Dank in den Himmel schickte, war lang genug, um mich vollständig aus dem Wasser zu heben. Kurz darauf bin ich auf die Knie gesunken, ohne nass zu werden. Ich konnte den Sand zu meinen Füßen greifen und seine Nässe an den Fingern spüren.“
„Der Meeresboden hat sich gehoben?“
Wenn Arne von seinem Vater auch schon viel Seemannsgarn gehört hatte, eine solch abenteuerliche Geschichte hatte selbst der noch nie erzählt.
„Das kann ich nicht glauben“, entfuhr es dem Jungen.
„Weißt du was, Arne?“ Martha trat dicht vor den Jungen und sah ihn mit fester Entschlossenheit an.
„Ich vertraue dir. Ich habe begonnen, meine Geschichte zu erzählen und ich werde mich nicht mehr davon abhalten lassen. Du musst mir zuhören. Am Ende, aber wirklich erst dann, darfst du entscheiden, ob ich lüge oder die Wahrheit spreche.“
Kleinlaut sank Arne in den Thron zurück und nahm sich fest vor, Marthas Worte nicht in Zweifel zu ziehen. Das sollte ihm jedoch im weiteren Verlauf immer wieder äußerst schwer fallen, so abenteuerlich war die Geschichte.
„Dann kamen Männer. Ich konnte mich kaum rühren, so erschrocken und erstaunt war ich. Sie sind fast über mich gestolpert. Als sie mich bemerkten, war ihre Überraschung bestimmt nicht kleiner als meine. Es schien, als seien ihnen die Worte im Hals stecken geblieben. Doch dann gab es ein lautes Rufen und Winken. In Windeseile hatten sich bestimmt hundert Leute um mich geschart und staunten auf mich herab. Ein alter Mann half mir auf die Beine und rief die ganze Zeit: Willkommen, willkommen.
Endlich wieder einmal Besuch. Aber viel zu jung.
Von
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