Terra Anchronos (German Edition)
offene Fenster schloss. Kaum wagte er es, die Vorhänge zuzuziehen. Davon würde das Mädchen bestimmt wach. Sie schlief nun schon seit dem frühen Nachmittag des vergangenen Tages, ohne sich auch nur einmal erhoben zu haben. Arne war sich sicher, denn er hatte fast die ganze Nacht kein Auge zugetan. Angestrengt hatte er von seinem Bett aus durch die angelehnte Tür gelauscht. Sein Zimmer lag auf demselben Flur des Hauses im Obergeschoß. Doch nicht einmal ein leises Husten war zu hören gewesen.
Der Vater hatte auf Arnes drängende Fragen keine Antwort gewusst. Nicht einmal den Namen des Mädchens hatte er sagen können.
„Wir waren nicht weit von der deutschen Bucht entfernt. Die Ansteuerungstonne habe ich schon sehen können.“
Arnes Vater rieb sich nachdenklich den grauen Bart und ließ sich von seinem Sohn mit einem Streichholz die Pfeife anzünden.
„Es war Zufall. Die Sturmwolken machten mir Sorgen. Ich sage dir, mein Junge: Auf See bist du in Gottes Hand. Besonders, wenn ein Sturm von dieser Stärke am Himmel aufzieht. Der erste Offizier hatte schon längst die Wache übernommen, aber ich konnte mich nicht zur Ruhe legen. Ich hatte die ganze Zeit dieses Gefühl, dass noch etwas geschehen würde.“
Er schlürfte genussvoll an seinem Glas Tee und stellte es dann schwungvoll auf den Tisch zurück.
„Seemann, Tod und Teufel! Was sol ich dir sagen?“
„Dass in diesem Hause nicht geflucht wird“, fiel ihm die Mutter ins Wort.
Irritiert sah der Kapitän seine Frau an und entschuldigte sich mit einem verlegenen Lächeln. Das Blitzen seiner Augen hingegen verriet, dass er ganz und gar nicht glaubte, mit diesem Ausdruck geflucht zu haben.
Er war in seinem Element und solche Dinge rutschen eben im Eifer des Erzählens einfach heraus.
„Wie auch immer. Die See tobte mit aller Macht und mein Fernglas wanderte immerzu über die Schaumkronen der Wellenberge. Ich bin nun wirklich lange genug zur See gefahren, um zu spüren, dass etwas nicht stimmt. Und tatsächlich blieb ich mit meinem Fernglas immer wieder an derselben Stelle auf See hängen. Ich gab das Kommando, den Kurs zu wechseln und auf die Stelle zuzuhalten. Einen Mann habe ich auf das Vordeck geschickt. Er sollte Ausguck halten.“
Zufrieden lehnte Arnes Vater sich zurück.
„Hat er das Mädchen entdeckt?“ Arnes Stimme zitterte vor Aufregung.
Der Vater nickte. „Ja, wir haben sie an Bord geholt.“
„Deswegen bist du so spät gekommen.“
Der Kapitän legte seinem Sohn entschuldigend eine Hand auf die Schulter. „In dem ganzen Durcheinander habe ich völlig das Signal vergessen.“
„Kein Problem“, sagte Arne großzügig und warf seiner Mutter einen verstohlenen Blick zu. Die beugte sich über ihre Häkelarbeit und tat, als hätte sie nichts bemerkt.
„Das Kind war völlig entkräftet und hoffnungslos unterkühlt. Sie schwamm bestimmt schon lange in der Nordsee und wäre unter Garantie bald ertrunken, wenn ich sie nicht gerettet hätte.“
Die Mutter unterbrach ihre Arbeit und schaute kurz auf. „Wer ist denn dieses arme Mädchen? Habt ihr etwas herausgefunden?“
Arnes Vater zuckte mit den Schultern. „Nichts“, sagte er. „Das Kind ist mir vor Erschöpfung fast augenblicklich in den Armen eingeschlafen. Ich muss zugeben, dass sie mit mir bisher noch kein Wort geredet hat.“
„Vielleicht versteht sie dich nicht.“
„Mag sein“, erwiderte der Kapitän auf Arnes Einwand. „Aber wir haben es mit allen Sprachen versucht, die an Bord gesprochen werden. Das sind viele, wie du weißt.“
„Sie muss doch von einem Schiff über Bord gefallen sein. Wie soll sie sonst mitten in der Nordsee aufgefunden werden?“
„Wir haben alle Schiffe in der Umgebung angerufen. Niemand vermisst das Mädchen. Auch die Küstenwache kann sich die Sache nicht erklären. Wir haben wirklich alles getan, was in der kurzen Zeit möglich war. Niemand kennt das Kind.“
„Dann ist es bestimmt ein blinder Passagier.“ Arne spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Die Ohren wurden ganz heiß.
Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, welches Abenteuer sich daraus entwickeln würde.
Wenn sie erst ausgeschlafen ist, dann wird ja wohl endlich das Geheimnis gelüftet werden. So dachte Arne.
Eigentlich war es ihm aber auch ganz lieb, wenn die mysteriösen Umstände, unter denen das Mädchen aufgetaucht war, noch eine Weile ungeklärt bleiben würden.
Arne sah noch einmal auf das scheinbar friedlich schlafende Mädchen und wollte gerade die Tür
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