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Terra Mater

Terra Mater

Titel: Terra Mater Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Bordage
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entfernt. Wie hätte ich von den finsteren Plänen erfahren können, die dort im bischöflichen Palast geschmiedet wurden?
    Mentale Memoiren des Kardinals Fracist Bogh, der unter dem Namen Barrofill XXV. Muffi der Kirche des Kreuzes wurde.
    J ek betrachtete den Wachturm der Gedanken, ein schmales hohes Gebäude, das alle Flachdächer der Hauptstadt Ut-Gens, Anjor, überragte. Dort oben, im erleuchteten runden Raum des Wachpostens, konnte er die unbewegliche Silhouette des scaythischen Inquisitors in seinem grauen Kapuzenmantel erkennen. Darüber stand am dunklen Himmel die rötliche Scheibe der sinkenden Sonne Hares.
    Diese beiden Phänomene, das eine künstlich, das andere natürlich, symbolisierten das doppelte Unglück, das über Ut-Gen hereingebrochen war. Nicht nur, dass vor viertausend Jahren Hares, der Sonnengott in Frauengestalt, die nukleare Pest über dem Planeten ausgebreitet und mehr als fünfzehn Milliarden seiner Bewohner dahingerafft hatte, dann landeten auch noch Legionen des großen Ang-Imperiums, Kreuzler, Scaythen, Pritiv-Söldner und Interlisten. Diese hatten die lokalen Ordnungskräfte ausgeschaltet und die sechs Konsuln entmachtet. Seit mehr als zehn Jahren führten sie, unter ihrem größten Fanatiker, dem Kardinal Fracist Bogh, ein Terrorregime.
    Jek ging weiter. Obwohl er erst acht Jahre alt war, wusste er, wie gefährlich es war, länger vor einem Wachturm der Gedanken stehen zu bleiben. Dort riskierte er, den Argwohn des scaythischen Inquisitors auf sich zu ziehen. Und nach einem mentalen Verhör würde man ihn entweder vor eines der heiligen Tribunale stellen oder in eines der Zentren
mentaler Reprogrammierung einweisen. Wenn er seinen großen Plan irgendwann realisieren wollte, durfte er keine Aufmerksamkeit erregen.
    Er ging die Hauptstraße Anjors wieder hoch, eine schmale und gewundene Avenue, länger als einhundertvierzig Kilometer. Die immer leuchtenden mobilen Laternen warfen gelbe Lichtflecke auf die Bürgersteige. Etwas weiter war es stockfinster. Ebenfalls leuchtende, von Nebelschwaden umwallte steinerne Pfosten markierten die Eingänge zu den unterirdischen Bahnhöfen, des Transportsystems Anjors – TRA genannt.
    Jek beschloss, die sieben Kilometer nach Hause zu Fuß zu gehen. Es war ihm lieber, zu spät zum Abendessen zu erscheinen und sich deshalb von seinen Eltern rügen zu lassen, als in eine dieser überfüllten U-Bahnen zu steigen, diese großen weißen Würmer, die lärmend durch die stinkenden, mit Schmiermittel getränkten Röhren unterhalb der Stadt kreuzten.
    Zuerst ging er in Richtung des rund um die Uhr geöffneten Marktes von Rakamel und betrachtete die Auslagen der Agrargemeinschaft. Die Angestellten trugen Kittel und Mützen aus ungebleichter Wolle. Seit der nuklearen Katastrophe wurden Getreide, Gemüse und Früchte in riesigen wasserdichten Gewächshäusern kultiviert und büßten jedes Jahr mehr an Geschmack und Aussehen ein. Auch das Fleisch war grau und schmeckte nach nichts.
    Wenn P’a At-Skin einmal guter Laune war – was immer seltener geschah –, setzte er seinen Sohn Jek auf seinen Schoß und erzählte ihm von den guten alten Zeiten auf Ut-Gen. Von jenen Zeiten, wo die Früchte saftig und süß schmeckten, die Tiere auf den Hochplateaus frei umherliefen und die Anjorianer im warmen Zougasmeer badeten …
Jek fragte sich dann immer, woher sein Vater das wisse. Denn er war jetzt fünfundsechzig, und die Katastrophe hatte sich vor etwa viertausend Jahren ereignet. Er musste also über ein ungeheures Vorstellungsvermögen verfügen, um die riesige Packeisfl äche in ein warmes Meer zu verwandeln. Doch Jek protestierte nie, er wusste, dass sein Vater manchmal das Bedürfnis hatte, allein durch Worte seine im Sterben begriffene Welt wiederauferstehen zu lassen.
    Jek ging an den trübsinnig wirkenden Händlern vorbei zum Platz der Heiligen Folter. Vor der Kirche des Kreuzes, deren schlanke Türme einen seltsamen Kontrast zu den quaderförmigen Konstruktionen der einheimischen Gebäude bildeten, stand ein Wald aus Feuerkreuzen. Kardinal Fracist Bogh ließ sie Tag und Nacht von Scheinwerfern anstrahlen, sodass jeder die gefolterten Körper der Verurteilten sehen und Zeuge ihres manchmal länger als sieben Tage währenden Todeskampfes sein konnte …
    Jek senkte den Kopf und biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu weinen. Auch wenn er diesen Anblick schon seit frühester Kindheit kannte, hatte er sich im Gegensatz zu den Gaffern nie daran gewöhnen

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