Teufelsengel
Unmögliche.«
Gott schwieg.
Sonnenstrahlen malten Muster auf den Boden. So schön und so vergeblich.
»Nicht Pia«, flüsterte Vero und hob den Blick. »Nicht auch noch sie.«
Er stellte sich die Qualen des Gekreuzigten vor und erschauerte.
»Bitte, Herr! Nicht dieses Mädchen!«
Pia war ihm nähergekommen als irgendjemand sonst. So nah, dass er sich an ihr hätte verbrennen können. Er liebte ihre Ernsthaftigkeit. Ihre Klugheit. Und ihre Reinheit.
»Überlasse sie nicht IHM! Sie ist deine Tochter! Sie verdient deinen Schutz!«
Vero senkte den Blick. Wie konnte er sich anmaßen, so einen Ton anzuschlagen. Verzeih mir, dachte er reumütig. Ich habe das nur aus Sorge getan.
Es war, als wäre die Stille noch dichter geworden. Das Schweigen des Herrn lastete auf Veros Schultern.
Wenn du mich gehört hast, Herr, dann gib mir ein Zeichen!
Nichts geschah.
Herr! Lass mich nicht vergeblich flehen!
In Vero regte sich heftiger, unheiliger, gewaltiger Zorn.
Auch auf Gott.
Er schluckte. Knirschte mit den Zähnen.
Verzeih...
Demut. Er hatte Demut und Gehorsam gelobt. Egal, was Gott geschehen ließ, Vero war ihm unbedingte Ergebenheit schuldig.
Der Herr schwieg.
Auch das war eine Antwort.
Vero stöhnte auf. Kaum hatte es geendet, sollte es schon wieder von vorn beginnen.
Mit dem Arzt, der zum Tatort kam, hatte Bert zuvor noch nichts zu tun gehabt. Er war mürrisch und zugeknöpft, ließ sich jedes Wort aus der Nase ziehen und machte den Eindruck, als sei er im Moment überall lieber als hier.
Da erging es Bert nicht anders. Aber es gab einen erheblichen Unterschied zwischen ihnen, und das war die Art ihrer Routine. Bert betrat jeden Tatort mit Respekt vor dem Toten und tat alles, um seine Würde zu wahren.
Auch in diesem Fall.
Doktor Kahn hingegen ging beinah ruppig mit der Toten um. Als mache er sie persönlich dafür verantwortlich, dass er sich in dieser Einöde die Schuhe ruinierte. Denn er legte allem Anschein nach großen Wert auf sein Äußeres. Das dichte graue Haar war perfekt geschnitten, der Oberlippenbart exakt gestutzt. Für den Chefarzt einer Fernsehserie wäre er die ideale Besetzung gewesen.
Sie befanden sich im Dünnwalder Wald. Um hierher zu gelangen, hatten sie das letzte Stück zu Fuß zurücklegen müssen. Das war nicht angenehm gewesen, denn in der Nacht war wieder Regen gefallen, vermischt mit Schnee, und Erde und Gras hatten sich mit Nässe vollgesogen.
Man konnte auf der einen Seite den Verkehr auf der Berliner Straße hören, auf der anderen das Rattern vorbeifahrender Güterzüge. Die lähmende Stille, die Bert spürte, war nur in seinem Kopf.
Die Tote sah aus wie ein Kind, doch Doktor Kahn schätzte sie auf Anfang zwanzig. Sie war erschütternd mager. Ihre fahle Gesichtshaut spannte sich über stark hervortretenden Wangenknochen. Die Handgelenke waren so schmal, als könnte man sie wie Hühnerknochen zwischen zwei Fingern zerbrechen.
In ihrem hellblonden Haar, das schmutzig und nass war, hatte sich ein eingerolltes schwarzes Blatt verfangen.
»Der Tod trat …«
Doktor Kahn zog die Einweghandschuhe mit einem flappenden Geräusch aus und richtete sich aus der Hocke auf. Er runzelte die Stirn, die knittrig wurde wie Pergament.
»… er trat vor zirka acht, neun Stunden ein.«
Bert schaute auf seine Armbanduhr. Kurz nach neun. Der Todeszeitpunkt lag demnach zwischen Mitternacht und ein Uhr. Geisterstunde.
Während der Arzt seine Tasche packte, fasste er die vorläufigen Ergebnisse seiner Untersuchung noch einmal zusammen.
»Die Tote war extrem unterernährt. Hätte man sie nicht erschossen, wäre sie in absehbarer Zeit vermutlich an Mangelernährung gestorben.«
»Verhungert«, sagte Bert.
Doktor Kahn ließ den Verschluss seiner Tasche zuschnappen und knöpfte seinen Mantel zu.
»Sie wurde aus nächster Nähe erschossen. Von vorn. Der Schuss ging direkt ins Herz. Sie war sofort tot. Sonst noch Fragen?«
Bert hatte jede Menge Fragen, aber die würde ihm der Arzt nicht beantworten können. Das war Sache der Spurensicherung, die den Tatort bereits abgeriegelt hatte und jetzt damit beschäftigt war, jeden Grashalm umzudrehen und in jedem Moospolster zu stochern.
Er nickte dem Doktor dankend zu und ging neben der Toten in die Hocke.
Ihre Körperhaltung wirkte entspannt. Als hätte sie sich zum Schlafen niedergelegt. Dabei war sie hierher geschleppt worden. Und sie hatte sich gewehrt. Der Boden war zertrampelt. Hier und da waren Schleifspuren zu sehen. An den
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