Teufelskanzel - Kaltenbachs erster Fall
›Wächter‹ war durch das milde Wetter der letzten Tage aufgeweicht und matschig geworden. Überall standen Pfützen, in kleinen Rinnsalen glitzerte das Schmelzwasser. Auf der Wiese vor dem Haus brach an etlichen Stellen das Gras hervor.
Luises Wagen stand neben einem älteren Volvo Kombi. Sonst war kein Auto zu sehen. Kaltenbach hastete den Weg aufwärts. Er hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte, doch ein unbestimmtes Gefühl von Furcht trieb ihn vorwärts. Was wäre, wenn auch Sutter nicht derjenige war, für den er sich ausgab?
Eine Klingel gab es nicht. Die Tür war offen, und Kaltenbach trat ein. Er lauschte einen Moment, doch das große Haus war gespenstisch still.
»Hallo? Ist jemand hier?«, rief er, doch keiner gab Antwort. Gleich rechts neben der Haustür war der Eingang zu dem großen Gemeinschaftsraum. Er sah hinein, doch auch hier war niemand. Bislang war dies der einzige Ort, zu dem Außenstehende zugelassen wurden. Ob Sutter Luise in sein Privatzimmer mitgenommen hatte?
Er trat wieder hinaus in den Flur. Im hinteren Teil des Hauses, den er bisher noch nicht kannte, gab es bis auf eine einfache Toilette und zwei Kellerräume keine weiteren Zimmer. Beide Keller waren offen. Der vordere diente als eine Art Holzschuppen. Überall lagen Scheite gestapelt, in einer Ecke Späne, Reisig und andere Holzabfälle, davor stand ein Hackblock, in den ein Beil eingeschlagen war.
Das zweite war eine Abstellkammer mit allem möglichen Gerümpel. Ein alter Schrank stand an der Wand, daneben eine Kommode mit schiefen Schubladen, ein Metallspind mit Vorhängeschloss. An der anderen Wand ein offenes Regal mit Konservenbüchsen, abgepacktem Saft und einigen Keksdosen. Kaltenbach wollte bereits wieder umkehren, als er plötzlich innehielt. Etwas war in dem Raum, das er kannte, und mit dem er etwas Angenehmes verband. Er drehte sich um und ging zurück in die Mitte des Zimmers. Es war ein Geruch, der sich in der dumpf-feuchten Umgebung abhob wie eine zarte Stimme. Sandelholz.
Kaltenbachs Herz klopfte. Fieberhaft begann er den Raum abzusuchen. Auf dem Boden in der Ecke fand er etwas, das wie ein braunes Stück Stoff aussah. Luises Inka-Mütze. Nun gab es keinen Zweifel mehr, Luise musste hier gewesen sein!
Als er die Mütze in seiner Hand betrachtete, hörte er plötzlich von Weitem ein leises Stöhnen. Vorsichtig ging er zurück in den Flur bis zum Fuß der Treppe und stieg langsam die ausgetretenen Stufen nach oben. »Luise?« Er rief ein drittes Mal.
Der düstere Flur mit den dunklen Holzwänden steigerte das beklemmende Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Er probierte vorsichtig der Reihe nach sämtliche Türen, doch alle waren abgeschlossen. Ausgerechnet die Tür zu Sutters Zimmer war nur angelehnt. Von innen hörte er ein leises Wimmern.
Als er eintrat, fühlte sich Kaltenbach wie durch ein Zeitloch zurück in die Vergangenheit und in Oberbergers Erkerzimmer geschleudert. Vor dem Bett mit dem Baldachin lag Sutter, der Belchenschamane, mit merkwürdig verrenkten Gliedmaßen. Von seinem Kopf rann Blut, sein Hemd war zerrissen wie nach einem Kampf. Kaltenbach sah sich rasch nach allen Seiten um. Niemand außer ihm war hier. Er knipste das Licht an, um besser sehen zu können. Jetzt merkte er, dass der Mann aus einer Wunde am Kopf blutete. Kaltenbach beugte sich herunter. Er spürte ein schwaches Atmen. Sutter lebte noch! Er klopfte ihn zur Ermunterung auf die Wangen und sprach ihn an. Der Mann öffnete kurz die Augen und versuchte, sich aufzurichten, doch dann sackte er erschöpft wieder zur Seite.
Kaltenbach fasste den Verletzten unter den Armen und zog ihn mit einiger Mühe hoch auf das Bett. Auf dem Teppich hatte sich ein großer dunkler Fleck gebildet.
Sutter benötigte dringend Hilfe. Auf dem Schreibtisch stand ein Telefon. Hastig wählte Kaltenbach die Notrufnummer und schilderte in knappen Worten, was geschehen war.
Nachdem er aufgelegt hatte, ließ er sich in den Stuhl fallen. Was hatte sich hier abgespielt? Und wo war Luise? Kaltenbach bekam seine Gedanken nicht zusammen. Was sollte er der Polizei erzählen, wenn man ihn schon wieder bei dem Opfer eines Überfalls fand?
Vom Bett her stöhnte Sutter leise. Kaltenbach stand auf und sah ein Waschbecken, das er beim letzten Mal übersehen hatte. Er zog ein Tuch aus dem Kleiderschrank, hielt es unter das kalte Wasser und legte es dem Verletzten auf die Stirn. Als er sich umwandte, um sich wieder auf den Stuhl zu setzen, fiel sein Blick auf die Wand
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