Teufelskanzel - Kaltenbachs erster Fall
hinter dem Schreibtisch. Die Karte mit dem Belchendreieck war verschwunden. Dort, wo das Messer gesteckt hatte, gab es nur ein hässliches Loch in der Wand.
Er spürte, wie ein Eishauch seinen Rücken hinunterlief.
Dienstag, 20. März
Der Pfad wurde steiler und schmaler. Kaltenbach begann zu schwitzen. Er zwang seine Augen vorwärts, um nicht nach unten schauen zu müssen. Jeder Schritt konnte ein Schritt zu viel sein. Eisiger Wind heulte in den umliegenden Klüften und um gezackte, in düstere Dunkelheit empor brechende Felsspitzen. Das Licht vor ihm tanzte wie ein Irrwisch durch die Nacht, leuchtete stärker und schwächer und verschwand, um dann an einer anderen Stelle wieder aufzutauchen, verwirrend und lockend. Längst war sein Schritt langsamer geworden. Der mit Steinen und Felsen übersäte Weg saugte seine Füße an wie ein fauliger Sumpf. Jede Bewegung wurde zur Qual, doch immer noch klammerte er seinen Blick an das Licht. Der Berg begann zu grollen wie ein waidwunder Elefant. Direkt vor ihm brach ein unförmiger Felsbrocken herunter, schlug auf und riss eine klaffende Lücke. Aus dem Loch erhob sich eine schwarze Wolke, stieg empor wie Rauch, drehte sich in wilden Spiralen und streckte suchende Tentakel nach allen Seiten aus. Mit weit aufgerissenen Augen sah er, wie sich der Dunst zusammenballte und direkt auf ihn zu kam. Tausende kleine böse Augen funkelten daraus hervor und starrten ihn an, Augen, die zu tausenden schwarzen Vögeln gehörten. Ohrenbetäubendes Kreischen mischte sich mit grabestiefem Gekrächze. Mit letzter Anstrengung riss er die Hände vor sein Gesicht, um sich vor der drohenden Masse aus Schnäbeln, Flügeln, Klauen und Krallen zu schützen, die nun mit Wucht über ihm zusammenschlug. Ein jäher Schmerz durchzuckte seinen Körper, seine Füße verloren den Halt, und er stürzte, hilflos mit Armen und Beinen rudernd …
Kaltenbach wachte mit einem Ruck auf. Es war fünf Uhr morgens. An Schlaf war nicht mehr zu denken, obwohl er völlig erschöpft war. Er ließ das warme Duschwasser über Gesicht und Körper laufen, bis er wieder einigermaßen klar denken konnte.
Die Schrecken des Traumes verfolgten ihn weit in den Morgen hinein. Zum Glück brachten die ersten Kunden, die vom Wochenmarkt herüberkamen, genügend Ablenkung, sodass die bedrohlichen Bilder allmählich verblassten.
Immer noch gab es kein Lebenszeichen von Luise. Entgegen seiner Gewohnheit ließ er das Handy eingeschaltet neben sich liegen. Bei jedem Anruf zuckte er erschrocken zusammen. Alle halbe Stunde drückte er vergebens die Wahlwiederholung.
Er spürte den schmerzhaften Drang, etwas unternehmen zu müssen, doch er fühlte sich auf unerträgliche Weise gelähmt. Was konnte er tun? Solange er nicht wusste, wo sie war, konnte er ihr nicht helfen. Wo sollte er suchen? Jegliche Vernunft sagte ihm, dass spätestens jetzt der Zeitpunkt gekommen war, doch die Polizei einzuschalten. Sie könnten mit Hubschraubern und Suchhunden das Belchengebiet absuchen. Wenn sie denn überhaupt dort war. Wenn sie überhaupt noch lebte.
Er spürte einen bitteren Kloß im Hals. Wenn er die Polizei informierte, würde er dieses Mal nicht so einfach davonkommen. Kein Kommissar in Südbaden würde ihm glauben, zweimal innerhalb weniger Tage unschuldig in zwei blutige Überfälle zu geraten. Man würde ihn verdächtigen, festsetzen und verhören, und es würde Tage und Wochen dauern, ehe seine Unschuld feststand. Und er würde nichts für Luise tun können. Nein, er musste weitermachen. Er war der Einzige, der Luise jetzt noch helfen konnte.
Die letzte Hoffnung war Sutter. Die Rotkreuzler hatten ihn gestern nach Schopfheim ins Kreiskrankenhaus gebracht. Zum Glück hatten sie Kaltenbach die Geschichte vom Sturz von der Treppe geglaubt und nicht weiter nachgefragt.
Gegen Mittag rief er in Schopfheim an. Es hieß, Sutter sei auf dem Weg der Besserung und sei bereits heute morgen von der Intensivstation auf ein Zimmer verlegt worden.
Kurz vor 13 Uhr schloss Kaltenbach den Laden ab. Zum dritten Mal innerhalb von vier Tagen fuhr er Richtung Süden. Dieses Mal folgte er der A5 Richtung Basel, bog bei Weil nach Lörrach ab und fuhr von dort das Wiesental entlang bis Schopfheim. Das Krankenhaus lag in der Nähe des Bahnhofs und war nicht zu verfehlen.
An der Eingangspforte erfragte Kaltenbach Sutters Zimmernummer. Nach wenigen Schritten stand er vor der Tür zum Krankenzimmer. Auf dem Schild standen zwei weitere Namen, die er nicht kannte.
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