Teuflische List
konnte, hatte Abigail mehr als nur überrascht.
Aber nur für Jules, nicht für dich, nie wieder.
»Wie auch immer, es geht mir gut«, sagte sie nun. »Du und Michael, ihr müsst euch also keine Sorgen um mich machen.«
An jenem Tag war das eine Lüge gewesen.
Und einen Monat später war es noch immer gelogen.
Abigail hatte sich nie recht vorstellen können, wie es sein würde. Nicht nur das Eingesperrtsein an sich und auch nicht Holloway im Besonderen mit seinen fünf kahlen Stockwerken, mit sechs Frauen in einer Zelle und ständiger Düsternis, sodass Abigail manchmal das Gefühl hatte, dass sie sogar mit ihrem einen, nur halb intakten Auge sehen konnte, wie all der Dreck förmlich in die Wände eingegraben war und von der Decke nach unten floss wie radioaktiver Fallout.
Das war es jedoch nicht, was ihr so viel ausmachte. Das hatte sie schließlich verdient.
Mördermutter. Muttermörder.
Es war die Tatsache, dass sie hier ohne Thomas war. Nun, da sie mit ihm zusammen gewesen war, da sie ihn gesehen hatte, da sie wusste, wie er sich anfühlte und wie er klang, vermisste sie die reine Schönheit ihres Kindes. Nun, da sie Mutter war. Nun, da sie ihn verloren hatte.
Die meiste Zeit aber war sie noch immer überzeugt davon, dass es richtig gewesen war, ihre Schuld einzugestehen und Thomas einen glücklichen und sicheren Start mit Jules und Olli zu verschaffen.
»Bist du wirklich sicher ?«, hatten sie all ihre Freundeimmer wieder gefragt, bis sie schon geglaubt hatte, sie müsse vor lauter Qual platzen.
Doch es zählte allein, dass ihr Kind sicher und glücklich war.
Sie selbst zählte gar nichts.
Als sie ihn hatte abgeben müssen – selbst an Jules, den besten Menschen, den sie je getroffen hatte –, war sie fast zusammengebrochen. Der Schmerz, ihrem Kind den Rücken zukehren zu müssen, war so stark gewesen, so alles verschlingend, dass sie eine Zeit lang wirklich geglaubt hatte, daran zu sterben.
Natürlich war das nicht geschehen, und nun war sie hier, nur noch eine Nummer, endlich verurteilt und weggesperrt. Sie zahlte den Preis für das, was sie getan hatte. In mancher Hinsicht hatte sie sogar das Gefühl, dass dieses neue Leben gar nicht mal so schlecht war, und die Frauen, mit denen sie zusammenlebte, behandelten sie gut. Es waren interessante Frauen, viele mit freundlichen Herzen. Sie gingen weniger rau mit ihr als untereinander um, teils wegen ihres mangelnden Sehvermögens, teils weil sie wussten, was es bedeutete, ein Kind zurücklassen zu müssen, teils aber auch – dessen war Abigail sich durchaus bewusst – wegen der Natur ihres Verbrechens. Und selbst die verhältnismäßig wenigen Frauen, die sie misshandelten oder gar gewalttätig gegen sie wurden, hatten ihre Geschichten und ihre Gründe dafür, warum sie so geworden waren. Manchmal hatte Abigail Angst vor ihnen, doch sie sagte sich, dass es ein Teil ihrer Strafe sei.
Die Wärterinnen waren sehr nett zu ihr. Sie hatten sogar abgemacht, sie zu ihrem nächsten Termin nach Moorfields und wieder zurück zu fahren, und sie gaben ihr Essen, ein Dach über dem Kopf und eine Arbeit, umsie zu beschäftigen, und sie ließen sie leben; also war es in Wahrheit eigentlich nicht genug. Nicht für sie.
Muttermörder. Mördermutter.
Nur dass sie ohne Thomas sein musste, war wirklich hart.
Das war die wahre Strafe.
Zum ersten Mal.
Jules kam den Regelungen gemäß alle vierzehn Tage zu Besuch, während Abigail darauf wartete, ob sie vielleicht verlegt werden würde. Doch niemand vermochte ihr zu sagen, wann das sein würde, und obwohl die Notwendigkeit regelmäßiger Augenuntersuchungen die Entscheidung beeinflusste, hatte ihr Status als junge Mutter keinerlei Auswirkungen darauf, zumal sie mehrmals bekundet hatte, dass sie nicht die geringste Absicht hegte, Thomas ins Gefängnis kommen zu lassen – weder in dieses noch in ein anderes –, denn das wäre selbstsüchtig von ihr, zumal es dem Jungen gar nichts bringen würde. Deshalb spiele es auch keine Rolle, wohin man sie schickte.
Jules hoffte, dass sie ihre Meinung noch ändern würde. Sie schrieb Abigail regelmäßige Briefe und schickte ihr Fotos von den beiden Jungen.
Olli sah wunderbar aus, glücklich und voller Lebenslust.
Thomas sah …
Abigail starrte die Bilder ihres Babys so lange an, dass alles immer mehr verschwamm und schließlich ihr Auge schmerzte.
Er sah wie ein normales, gesundes Baby aus, doch nun, da sie ihn nicht mehr leibhaftig sehen oder hören konnte, wirkte er
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