Teuflische List
gelassen, »dass du auch deine Mutter und deinen Vater tot gemacht hast?«
Abigail stieß ihn von sich, kroch aus dem Bett, rannte ins Badezimmer und übergab sich.
Als die Übelkeit verebbte, setzte sie sich zurück. Sie hockte noch immer auf dem Boden und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, drückte sich ein feuchtes Handtuch aufs Gesicht und bemerkte, dass Thomas in seinem Lieblingsschlafanzug mit den Dinosauriern in der Tür stand und sie beobachtete.
»Es ist schon gut«, sagte er leise und diesmal ein wenig verunsichert. »Es macht mir nichts aus.«
Abigail öffnete den Mund und versuchte zu sprechen, doch kein Wort kam über ihre Lippen.
»Es ist okay, Mami«, sagte Thomas. »Das mit meinem Vater.«
Die Hand mit dem feuchten Handtuch begann plötzlich heftig zu zittern.
»Es ist okay«, wiederholte Thomas. »Jemand hat’s Olli in der Schule erzählt, aber Tante Jules hat ihm gesagt, dass es ein Unfall gewesen ist.«
Abigail bemerkte, wie verängstigt er aussah, vielleicht ob der Wirkung, die seine Worte auf sie gehabt hatten.
Noch immer zitternd streckte sie die Hand nach ihm aus.
Thomas blieb in der Tür stehen.
»Es tut mir Leid, Mami.« Seine Stimme bebte.
»Es gibt nichts, das dir Leid tun müsste, Liebling«, sagte Abigail.
Er trat ins Badezimmer, blieb aber sofort wieder stehen.
»Ich würde nie ein Baby töten«, sagte er.
»Ich weiß«, sagte Abigail mit erstickter Stimme.
Da rannte er auf sie zu und schlang so wild die Arme um sie, dass ihr Kopf gegen die Wand schlug. Guter Schmerz, dachte sie. Der Schmerz der Leidenschaft.
»O Gott«, sagte sie und nahm ihn in die Arme.
Er lehnte sich zurück und verlagerte sein Gewicht auf die Unterarme, und rasch verschränkte Abigail die Hände hinter ihm, damit er sich sicher fühlte.
Er schaute ihr aufmerksam ins Gesicht.
»Hast du eine Ahnung«, fragte Abigail, »wie sehr ich dich liebe, Thomas Graves?«
»Mehr als alles andere?«, fragte er zurück.
»Mehr als alles und alle anderen«, antwortete sie, wie die meisten Mütter auf diese Fragen antworten würden. »Mehr als alles andere auf der großen weiten Welt.«
Seine Augen waren feucht und wieder von sanftem Grün.
Phönix’ Augen.
»Dann ist ja alles gut, Mami«, sagte Thomas.
Hilary Norman , geboren und aufgewachsen in London, war nach einer Karriere als Schauspielerin zunächst in der Mode- und Fernsehbranche tätig. Ihr erster Roman erschien 1986; seitdem hat sie fünfzehn weitere Bücher geschrieben, die in siebzehn Sprachen übersetzt wurden. Sie reist, wie sie selbst sagt, »so oft wie möglich«, um für ihre Romane zu recherchieren. Nach einem längeren Aufenthalt in den USA lebt Hilary Norman heute wieder mit ihrem Mann in London.
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