Teuflische List
irgendwie unwirklich auf sie, wie ein Mysterium.
Es war keine Entfremdung, nichts derart Gefühlloses; es war nur diese abscheuliche, schmerzhafte Unwirklichkeit, als sie sich die Fotos ansah. Und das Schlimmste war, dass sie ihn nicht mehr fühlen konnte und er nicht sie.
»Bitte, lass mich ihn nächstes Mal mitbringen«, bat Jules bei ihrem zweiten Besuch im April. »Ich könnte beide Jungen mitbringen. Michael könnte ebenfalls kommen, wenn du möchtest.«
»Nein«, sagte Abigail.
»Dann nur Thomas?«, fragte Jules.
»Nein.« Abigails Augen waren wie üblich hinter einer dunklen Brille verborgen.
»Warum nicht?« Jules kannte die Antwort auf ihre Frage, doch es frustrierte sie noch immer, weil es so schrecklich falsch war. »Es würde ihm doch gar nicht schaden. Das hier ist kein so schrecklicher Ort, jedenfalls nicht für diejenigen, die kommen und wieder gehen können, und ganz sicher nicht für ein kleines Baby.«
»Sie durchsuchen dich«, sagte Abigail.
»Sie sind aber nicht grob«, sagte Jules. »Und mit Thomas werden sie erst recht nicht grob sein, das verspreche ich dir.«
»Nein«, sagte Abigail. »Bitte, hör auf, mich zu fragen.«
»Aber so verschlimmerst du deine Qualen doch nur noch, Liebling.«
»Nicht so sehr, als wenn ich zusehen müsste, wie du ihn wieder hinausträgst.«
»Glaubst du denn immer noch nicht, dass du gestraft genug bist?«
Abigail schwieg einen Augenblick lang.
»Wenn sie mich weit wegbringen«, sagte sie, »dannmöchte ich nicht, dass du kommst. Ich will nicht, dass du so lange Autobahnstrecken fährst.«
»Es ist meine Sache, ob ich komme oder nicht.«
»Nicht, wenn ich dir keinen Besucherschein zukommen lasse.«
»Darüber solltest du nicht mal scherzen «, sagte Jules.
»Tut mir Leid«, entgegnete Abigail. »Aber du hast mit Olli, Thomas und dem Laden schon genug zu tun. Du kannst dich nicht auch noch mit mir belasten.«
»Du bist keine Belastung.« Jules war beinahe wütend.
»Tut mir Leid«, sagte Abigail noch einmal.
64.
»Wow!«, sagte Jules bei ihrem ersten Besuch im Juni.
»Was denkst du?«, fragte Abigail.
Sie hatte ihr Haar kurz, fast wild geschnitten; zwar stand es ihr recht gut, betonte aber zugleich ihre Verhärmtheit.
»Mir gefällt’s«, sagte Jules.
»Lügnerin.« Abigail lächelte. »Es ist bloß einfacher zu pflegen.«
»Da bin ich sicher«, sagte Jules. »Und ich lüge nicht. Es ist nur … Dein Haar war so schön.«
»Silas hätte sich tierisch aufgeregt«, bemerkte Abigail.
»Ist das der Grund, warum du es getan hast?«
»Eigentlich nicht.« Abigail zuckte mit den Schultern. »Es ist einfach mal was Neues. Raus mit dem Alten.«
Jules nickte, ruckte nervös auf ihrem Stuhl, blickte kurz zum Nachbartisch und wandte sich dann rasch wieder ab. Das ungeschriebene Knastgesetz, das sie am schnellsten kapiert hatte, lautete: Steck die Nase in deine eigenen Angelegenheiten. Das war alles, was man im Gefängnis tun konnte, um wenigstens einen Hauch von Privatsphäre zu haben.
»Was ist, Jules?«, fragte Abigail.
Jules atmete tief durch. »Ich habe ein Haus gefunden«, sagte sie. »Ein Landhaus.«
»Okay«, sagte Abigail. »Erzähl mir davon.«
»Es liegt in Suffolk, am Rande eines kleinen Ortes mit Namen Foldingham.«
»Ich war noch nie in Suffolk«, bemerkte Abigail.
»Es ist sehr hübsch dort, jede Menge alte Dörfer. Manchen ist die Landschaft ein wenig zu flach, aber es ist dort wie geschaffen zum Radfahren.« Jules lächelte. »Wenn du rauskommst und die zweite Operation hinter dir hast, könnten wir uns Fahrräder kaufen, uns gemeinsam fit machen und ein wenig die Gegend erkunden.« Sie hielt kurz inne. »Das heißt … natürlich nur, wenn dir das Haus gefällt. Ich werde dir in meinem nächsten Brief ein paar Fotos schicken, aber zuerst wollte ich es dir von Angesicht zu Angesicht erzählen.«
»Du brauchst meine Zustimmung nicht«, sagte Abigail.
»Und ob ich die brauche«, widersprach Jules. »Schließlich soll es ja unser Haus werden.«
»Nicht juristisch gesehen«, erwiderte Abigail. »Eigentlich gar nicht, und das noch für lange Zeit.«
»So lange dauert das nicht mehr«, sagte Jules, »so wie die Zeit verfliegt.«
»Hier drin nicht«, entgegnete Abigail.
»Nein«, sagte Jules. »Natürlich nicht. Tut mir Leid.«
»Dafür gibt es keinen Grund«, sagte Abigail.
»Es wird euch genauso gefallen wie Olli und mir.«
Abigail lächelte. »Olli gefällt es also, hm?«
»Auf jeden Fall hat es ganz den Eindruck
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