Teuflische Lust
peinlich.
»Mit etwas Übung kriegen Sie das hin«, sagte er optimistisch. »Machen Sie erst einmal eine Pause. Man sieht sich.« Er rannte weiter, genauso leichtfüßig und locker wie zuvor.
Alexia sah die athletische Gestalt zwischen den Bäumen verschwinden. Dann grub sie ihre Hand in die Hosentasche und zog ein Taschentuch heraus, um sich die schweißnasse Stirn abzutupfen. Alexia war klitschnass und gab sicher ein ganz erbärmliches Bild ab. Wie jemand, der gern zu viel aß und alles andere als sportlich war.
Ein Joggerpärchen lief an ihr vorbei, und sie bemühte sich, nicht allzu laut zu schnaufen. Es war ihr unangenehm, dass man ihr die mangelnde Fitness nicht nur ansah, sondern auch noch anhörte. Doch der Versuch, dies zu vertuschen, misslang. Ihr Atem ging schwerfällig, und als sie den Kopf hob, bemerkte sie den spöttischen Blick der Frau, die imGegensatz zu Alexia eine Topfigur hatte und für die es auch kein Problem darstellte, mit ihrem Freund mitzuhalten. Alexia hörte ihr leises Lachen. Am liebsten wäre sie auf der Stelle losgerannt, um es den beiden so richtig zu zeigen, sie vielleicht sogar zu überholen. Aber das gab ihr Körper einfach nicht her. Noch nicht. Sie musste aufgeben. Kurz vor ihrem Ziel. Doch morgen, das nahm sie sich ganz fest vor, würde sie zwei Runden joggen, ohne ein einziges Mal anzuhalten.
Den Weg zurück ging sie im Schritttempo. Sie versuchte, optimistisch zu bleiben. Zwar hatte sie keine zwei Runden geschafft, dafür aber eine halbe Runde mehr als gestern und eine ganze Runde mehr als vor einer Woche. Sie konnte schließlich nicht erwarten, dass sie über Nacht zur Marathonläuferin mutierte. Wären da nur nicht die Blicke der anderen Jogger, die oft gehässig und böswillig schienen, manchmal auch mitleidig.
Im Flur begegnete sie Frau Wagner, die ihre Einkaufskarre mühsam Stufe für Stufe nach oben zog. Die alte Dame war ihr die liebste Nachbarin im ganzen Haus. Kurz nach ihrem Einzug hatte sie Alexia zu Tee und Kuchen eingeladen. Frau Wagner machte den besten Ingwertee weit und breit.
»Guten Morgen, Frau Wagner, kann ich Ihnen helfen?«, fragte Alexia.
Frau Wagner blickte zu ihr auf. Obwohl sie zwei Stufen über ihr stand, schienen sie fast auf Augenhöhe zu sein. Die alte Dame trug ihre silbergrauen Haare raspelkurz. Sie waren sehr glatt und äußerst gerade geschnitten, so dass man fast den Eindruck gewann, sie trüge eigentlich einen grauen Helm. Ihr Gesicht war herzförmig und trotz ihres hohen Alters, das Alexia auf Mitte bis Ende 70 schätzte, fast faltenfrei. Nur an den Mundwinkeln und auf der Stirn hatte sie einigeFurchen, die ihre Züge aber keineswegs grimmig, sondern im Gegenteil, gütig und weise aussehen ließen.
»Einen schönen guten Morgen, Alexia. Sehr nett von Ihnen.« Frau Wagner stellte ihre Karre auf der Stufe ab und trat zur Seite, während Alexia den Griff nahm und versuchte, den Wagen anzuheben. Er war schwerer als erwartet.
»Na, da haben Sie wohl Steine eingekauft, was?«
Frau Wagner lachte heiser und schüttelte den Kopf. »Ich kaufe immer auf Vorrat. Dann reicht es für die nächsten zwei Wochen.«
Alexia biss die Zähne zusammen, um die Karre in den ersten Stock zu ziehen. Ganz nebenbei stellte sie fest, dass sie nicht nur an ihrer Kondition, sondern auch an ihrer Muskelkraft arbeiten musste.
»Vielen Dank, Alexia«, sagte Frau Wagner und lächelte mit geschlossenem Mund, wie sie es immer tat, um ihre Zahnlücken zu verbergen. Sie hatte ihre Zähne immer gepflegt, wie sie Alexia erklärt hatte, doch aufgrund einer üblen Wurzelentzündung, die auch auf die Nachbarzähne übergegangen war, hatte man ihr gleich mehrere entfernen müssen. Das war allerdings schon einige Zeit her. Und weil Frau Wagner seitdem Angst vor Zahnärzten hatte, war sie nicht mehr in Behandlung gegangen. Durch die fehlenden Zähne wirkte ihr Kinn recht spitz, fast ein wenig hexenartig, und in Kombination mit ihrem gutmütigen Blick erinnerte sie Alexia an eine Landschildkröte, die gerade ein köstliches Salatblatt entdeckt hatte.
»Möchten Sie mit hineinkommen? Ich mache uns einen schönen Tee.«
Alexia blickte auf ihre Uhr. Jetzt war es kurz nach 10 Uhr. Ein wenig Zeit blieb ihr noch, ehe sie zur Uni musste.
FrauWagner hatte niemanden. Ihr Mann war vor vielen Jahren verstorben und ihr einziger Sohn war nach Amerika ausgewandert, so dass die alte Dame auf sich allein gestellt war. Alexia hatte hin und wieder Karten mit ihr gespielt, war mit ihr auf
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